Bedoeld is: antroposofie in de media. Maar ook: in de persbak van de wijngaard, met voeten getreden. Want antroposofie verwacht uitgewrongen te worden om tot haar werkelijke vrucht door te dringen. Deze weblog proeft de in de media verschijnende antroposofie op haar, veelal heerlijke, smaak, maar laat problemen en controverses niet onbesproken.

zondag 10 juni 2012

Fichte

Op 17 mei had ik het in ‘Financiering’ uitgebreid over het vuistdikke boek van Hartmut Traub, ‘Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners. Grundlegung und Kritik’. Wat ik toen nog niet gedaan had, was de link leggen met enkele berichten die ik vorig jaar heb geschreven (even uitgebreid trouwens) over Spinoza. De eerste was op 8 mei 2011 en droeg de titel ‘Wijnpers’. Ik heb een tijdlang daarna een aantal berichten over dit thema geschreven, dankbaar gebruik makend van een speciale website van NRC Handelsblad met boekrecensies, waaruit ik in extenso citeerde. Vooral de besprekingen van Arnold Heumakers.

En nu ben ik blij dat ik dat destijds zo heb gedaan, want niet lang daarna werd die website opgeheven en had je niet zomaar meer de beschikking over al die prachtige NRC-boekbesprekingen. Er is nog wel een mogelijkheid om recensies uit NRC Handelsblad op het internet te vinden, maar dat gaat via een andere website: ‘nrc lux, de cultuurwebwinkel’, en dan de pagina’s met ‘Besproken in NRC’. Voor niks gaat de zon op, en er moet toch in ieder geval gepoogd worden eraan te verdienen. Dat is logisch.

Misschien moet ik eerst al mijn berichten van destijds even op een rijtje zetten, volgend op die op 8 mei 2011:

Verlichting’ op 15 mei
Wereldbeschouwing’ op 20 mei 2011
Romantiek’ op 21 mei 2011
Ontdekking’ op 26 mei 2011
Duizend’ op 28 mei 2011
Nietzsche en de toekomst’ op 30 mei 2011
Imaginatie en inspiratie’ op 2 juni 2011
Lessing’ op 12 juni 2011
Bewustzijnsziel’ op 19 juli 2011
en als nakomertje ‘Op dreef’ op 29 september 2011.

Toen was het even op. De aanleiding tot dit alles waren twee voordrachten van Steiner waarop ik was gestuit. Hij heeft het daarin over twee vorige incarnaties van Fichte en noemt die ook. Van de zeer vroege voordracht in zijn loopbaan op 24 augustus 1903 in Berlijn, in GA 88, bestaan slechts een paar notities. Die luiden voor een deel:
‘Jedes menschliche Wesen muß durch eine Kraft vom Devachan wieder in die physische Sphäre herabgezogen werden, um dort Fähigkeiten zu erlernen, die es noch nicht entwickelt hat. In der obersten Arupastufe lernt der Mensch diese Kräfte kennen und bekommt dadurch Einfluß auf seine spätere Inkarnation. Er nimmt dann auch sein Leben bis zu einem gewissen Grade in die Hand. Er ist ein Beispiel regelmäßiger Entwicklung.

Eine Inkarnation hängt aber nicht allein von der eigenen Entwicklung ab, sondern auch von dem Nutzen und von der Bedeutung für die ganze Evolution. Die Aufeinanderfolge der Persönlichkeiten höherer Individualitäten ist nicht mehr unregelmäßig. Bei den weniger Entwickelten ist die Verkörperung noch unregelmäßig. Bei hoch entwickelten Individualitäten werden hervorstechende Eigenschaften hervortreten. Dazu gehören

1. ein ehrfürchtiges Aufschauen zu dem Höheren,
2. eine ruhige Liebe zu Gott,
3. das Werden in Gott.

Als Beispiel für eine regelmäßige Entwicklung einer Individualität können wir betrachten einen Zeitgenossen von Jesus, Philo von Alexandrien. Seine Individualität kam wieder als Spinoza und dann als Johann Gottlieb Fichte. Wir haben hier also eine durchgehende Individualität in drei Persönlichkeiten. Liest man Fichte ohne Kenntnis dieser Vorgänge, so versteht man ihn nur wenig. Mit dieser Kenntnis aber findet man, daß seine Worte mit Feuerschrift geschrieben sind. Alle diese großen Geister haben eine regelmäßige Entwicklung durchgemacht.’
De tweede voordracht was tien jaar later, op 5 juni 1913 in Helsinki, te vinden in GA 158, waarin Steiner bij zijn Russische publiek het bovenstaande blijkbaar als bekend veronderstelt:
‘So war es die europäische Kultur, welche dadurch, daß sie zurückgeblieben war, in ursprünglicher, frischer Kraft dastand – und ursprüngliche frische Kraft ist näher mit dem Göttlichen verwandt –, bereit war, den Christus-Impuls aufzunehmen. So flossen zusammen innerhalb der abendländischen Welt zwei Strömungen, die für jeden, der dafür eine Empfindung hat, scharf zu unterscheiden sind. Wer würde nicht unterscheiden können den eigentümlichen Grundton Fichtes, des mitteleuropäischen Philosophen, und den eigentümlichen Grundton Spinozas, der ja auch ein europäischer Philosoph war. Es ist sogar in der Menschheitsevolution so, daß dasjenige, was der allgemeinen Kultur angehört, von derselben Individualität getragen werden kann. Denn dieselbe Individualität ist ja Spinoza und Fichte, wie vielleicht schon einige unserer Freunde wissen. Aber Fichte ist als einzelne Persönlichkeit des 18., 19. Jahrhunderts ein Geist, der durchdrungen werden konnte von der ganzen Kraft des Christus-Impulses; Spinoza, also dieselbe Individualität, steht aber in der andern Strömung darinnen und hat nichts davon.’
Als ik dit weer heb opgehaald, namelijk de volgens Steiner met elkaar verbonden achtereenvolgende rij van Philo van Alexandrië, Spinoza en Fichte, kan ik terugkeren bij Hartmut Traub, Steiner en Fichte. En dat is heel simpel de volledige inhoud van het interview dat Ansgar Martins had met deze Hartmut Traub en dat hij op zaterdag 2 juni op zijn ‘Waldorfblog’ plaatste onder de titel ‘Die “Optik des Geistes” und der Geist des Okkulten – Ein Gespräch mit Hartmut Traub’. Het is buitengewoon verhelderend en ook voor een simpele en niet in de filosofie geschoolde geest als ik heel goed te volgen. Dus zet u schrap, daar komt-ie:
‘Waldorfschulen, demeter-Landwirtschaft und Weleda-Kosmetik sind weit bekannt, eine kleinere Öffentlichkeit ist auch über den okkulten Weltanschauungskosmos Rudolf Steiners informiert. Der philosophische Werdegang Steiners vor seiner Wende zur Esoterik ist aber bisher fast nur durch apologetische Stellungnahmen von AnthroposophInnen erschlossen, die versuchen zu zeigen, “dass die eigentlichen spirituellen Wurzeln des Frühwerks” bereits in der “übersinnlichen Wirklichkeit liegen” (Sergej Prokofieff), die der späte Steiner als Esoteriker beschwor. Die Realität ist freilich komplizierter. Dazu befragte ich Hartmut Traub, der mit seinem Buch “Philosophie und Anthroposophie” jüngst eine ideengeschichtliche Analyse und philosophische Kritik dieses “frühen” Steiner vorgelegt hat.

Ansgar Martins: Was interessiert Sie als Nichtanthroposoph und in Absetzung von der apologetischen Steinerdeutung an einer “Grundlegung und Kritik” der vor-esoterischen Philosophie Steiners?

Hartmut Traub: Das Problem, das Sie hier ansprechen, ist der philosophischen Forschung nicht unbekannt. Es geht um die häufig auftretende Frage, wie der Entwicklungsprozess eines Philosophen und die darin auftretenden Schwerpunktverlagerungen seines Denkens zu verstehen sind. Bei Platon etwa unterscheiden wir die frühen von den mittleren oder späten Dialogen. Bestimmt der Sokratische Zweifel die frühen Dialoge, so tritt in den späten Dialogen die Ideenlehre in den Vordergrund. Oder nehmen sie ein anderes Beispiel: Ludwig Wittgenstein. Hier stehen wir vor der Frage, ob der Wittgenstein der “Philosophischen Untersuchungen” noch der Wittgenstein des “Tractatus” ist. Oder denken Sie an die “Kehre” vom frühen zum späten Heidegger. Auch in der Fichte-Forschung, in der ich die Ehre habe, seit geraumer Zeit aktiv mitzuwirken, kennen wir dieses Problem. Wir fragen uns etwa, wie die radikalen Revolutionsschriften des frühen Fichte mit den geschichtsmetaphysischen Offenbarungsspekulationen des späten Fichte zusammen passen? Grundsätzlich kann man sagen, dass Philosophieren – auch bei den großen Denkern – ein Lern- und Entwicklungsprozess ist. Das impliziert Veränderung. Wenn Sie von Steiners “Wende zur Esoterik” sprechen, dann geht es genau um diese Frage nach dem Lern- und Entwicklungsprozess von Steiners Denken.

Martins: Wie gehen Anthroposophen mit diesem Lernprozess Steiners um?

Traub: Die anthroposophische Steiner-Forschung kennzeichnet der Versuch, den “ganzen Steiner”, das heißt, den esoterischen wie den prä-esoterischen Steiner, allein vom Ende seiner geistigen Entwicklung her erschließen und deuten zu wollen. Das ist ein höchst spekulatives und problematisches Unternehmen. Der Steiner der Philosophie der Freiheit hätte dagegen ernste Vorbehalte ins Feld geführt. Denken Sie etwa an seine Kritik der Teleologie auf dem Felde der Moral- und Geisteswissenschaften. Die “retrospektive Interpretation”, wie ich das genannt habe, birgt nämlich die Gefahr, die originäre Bedeutung und Eigenständigkeit der Ideen der früheren Phasen von Steiners Denken nicht angemessen würdigen zu können, weil die Sicht von der Einseitigkeit des anthroposophischen Standpunktes dominiert wird. Werkgeschichtlich scheint mir das ein zentrales Problem der anthroposophischen Steiner-Deutung zu sein.

Martins: Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Traub: An vielen Stellen meines Buches wird gezeigt, dass man mit der retrospektiven Interpretation in die größten Schwierigkeiten gerät. Dazu nun das Beispiel. Es gibt eine anthroposophische Deutung des Kapitels III der Philosophie der Freiheit, die behauptet, dass sich darin eine vierstufige Theorie des Denkens befände. Was dabei übersehen wird, ist die werkgeschichtliche Tatsache, dass die Referenzstelle für die vierte Stufe im ursprünglichen Text nicht enthalten war. Sie befindet sich in einer Fußnote, die von Steiner 1918 eingefügt wurde. Solche Ungereimtheiten ließen sich zahllose nennen. Dieses Problem entsteht der anthroposophischen Steiner-Forschung alleine dadurch, dass sie geradezu zwanghaft versucht, Steiners frühe Schriften in ein esoterisches Interpretationskorsett zu zwängen. Mein Anliegen läuft dem genau entgegen. Ich nehme die frühen Arbeiten in ihrer Genese und der Vielfalt ihrer Themen ernst, und ich denke auf diesem Wege gezeigt zu haben, dass Steiner mehr zu bieten hat, als das, was uns die anthroposophische Steiner-Forschung sehen lassen möchte.

Martins: Wie würden Sie Steiners philosophische Weltanschauung zusammenfassen?

Traub: Wenn ich an den frühen Steiner und die Philosophie der Freiheit denke, dann haben wir es hier mit einem radikal-individualistischen Denkansatz zu tun, der davon überzeugt ist, durch die Kraft einer persönlichen Denkerfahrung die großen philosophischen Themenfelder der Erkenntnis, der Ethik und der Kosmologie erschließen und neu strukturieren zu können.

Steiner und Fichte

Martins: Sie betonen vor allem, dass Steiner seine Positionen in vielen Details und großen Entwürfen dem Idealismus Johann Gottlieb Fichtes verdankt. Naiv gesagt: Was wollte Fichte und wie hat Steiner ihn rezipiert?

Traub: In dem, was ich soeben über die Philosophie der Freiheit sagte, und das gilt auch für Steiners Dissertation und Wahrheit und Wissenschaft”, ist es das von Descartes über Kant und Fichte gelegte Fundament der Geschichte der Philosophie der Neuzeit: das “Ich-denke”, von dem Steiner – im übrigen auch Stirner, Schopenhauer und Nietzsche – fasziniert war. Bei Fichte kommt hinzu, dass sein cogito (co-agito) zugleich ein volo, ein “Ich-will”, ein video, ein “Ich-sehe” und ein afficio, ein “Ich-fühle” ist. Es ist ja doch sehr bemerkenswert, dass J.G. Fichte der Referenzphilosoph von Steiners Dissertation war. Seine Dissertation heißt nicht, wie das manche Vertreter der anthroposophischen Steiner-Forschung gerne behaupten, Wahrheit und Wissenschaft, sondern: Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichte’s Wissenschaftslehre. Das heißt, Steiner hat seine Erkenntnistheorie vor allem an Fichtes Theorie der intellektuellen Anschauung und der Theorie vom “inneren Sehen” ausgerichtet. In diesem Punkt gibt es von Steiners Seite aus keinen Dissens zu Fichte. Im Gegenteil: Fichtes “sehende Setzungskraft” oder “setzende Sehkraft”, die aufs Innerste mit der Freiheitshandlung des Ich verbunden ist, ist auch das Theorem, von dem aus Steiner seine Philosophie konzipiert.

Bei Fichte ist mit der Theorie des “übersinnlichen Sehens” zudem eine sehr interessante interpersonal gedachte Idee des “Geisterreichs” verbunden. Ich bin davon überzeugt, dass auch dieser Gedanke für Steiner Signalwirkung, wenn nicht gar Prägefunktion gehabt hat.

Martins: Wo liegen Steiners Differenzen zu Fichte?

Traub: Von Fichte verabschiedet er sich dann bei den Themen “Transzendentalität” und “Konstitutivität”. Allerdings, und auch das habe ich ausführlich gezeigt, gibt es in diesem Themenkomplex bei Steiner eklatante Missverständnisse und Fehleinschätzungen. Und die betreffen nicht alleine Fichte, sondern vor allem auch Kant. Sie betreffen aber auch die Beurteilung des eigenen Denkansatzes. Lassen Sie mich auch dazu ein Beispiel geben. Wenn Steiner behauptet, Begriffe, etwa der der Kausalität, werden nicht induktiv durch Generalisierung sinnlicher Wahrnehmungen gewonnen, sondern liegen der Möglichkeit der Ursache-Wirkungs-Erfahrung bereits zu Grunde, dann hat er sich damit nicht nur nicht vom kategorialen Denken der Transzendentalphilosophie abgesetzt, sondern exemplarisch wiederholt und bekräftigt, was etwa Kant in seiner transzendentalen Analytik ausführlich erörtert. Davon unberührt ist allerdings die Frage nach dem Verhältnis von Kants Theorie der Objektivität transzendentaler Begriffe und Steiners Lehre von der Realität der Begriffe und Ideen.

“Windmühlen seiner eigenen Phantasie”

Martins: Wie gut kannte Steiner sich im Kanon der abendländischen Philosophie aus? In der “Philosophie der Freiheit” finden sich Bezüge auf Hegel und Humes berühmtes Billardkugel-Beispiel, aber auch eine bemerkenswert verfehlte Spinozakritik. In Ihren Worten kämpft Steiner mit seiner philosophischen Polemik hier teilweise gegen die “Windmühlen seiner eigenen Phantasie”. Warum?

Traub: Steiner war, lassen Sie es mich etwas bildhaft ausdrücken, ein “literarischer Vielfraß und Schnellesser”. Was er sich alles in kürzester Zeit angeeignet zu haben scheint, ist atemberaubend. Nehmen Sie allein Kants Kritik der reinen Vernunft. Wer mit dem ernsthaften Studium dieses Werks einmal angefangen hat, der wird sehr schnell feststellen, dass man damit nicht in drei Wochen fertig sein kann. Nichtsdestoweniger hat sich Steiner mit vielen Autoren der Philosophiegeschichte sehr intensiv auseinander gesetzt, sie studiert, exerpiert und auch internalisiert, Nietzsche und Stirner z.B. Was die “Windmühlen seiner eigenen Phantasie” betrifft, so geht es hier um das Spannungsverhältnis zwischen philosophiegeschichtlicher Redlichkeit im Umgang mit Autoren einerseits und um die argumentationsstrategische Modellierung von Positionen zum Zweck einer polemischen Selbstbehauptung andererseits. Im Dienst der Ausschärfung der eigenen Position wendet Steiner die Methode der Verzerrung philosophischer Gegenargumente an. Dieses methodologisch durchaus legitime Verfahren führt bei ihm allerdings dazu, dass die Ausschärfung der eigenen Position zugleich als Widerlegung des verzerrten Standpunktes behauptet wird. Und das geht nun nicht. Ich nenne Ihnen ein Beispiel.

Martins: Ich bitte darum!

Steiner, Kant und das Etikett Neukantianismus

Traub: Steiner behauptet in seiner Dissertation, Kants Kritik der reinen Vernunft mache die synthetischen Urteile a priori zur voraussetzungslosen Grundlage der Erkenntnistheorie. Und jetzt wird gezeigt, dass sie diese Funktion nicht übernehmen können, weil sich nachweisen lässt – so Steiner –, dass dieser Voraussetzung eine andere zugrunde gelegt werden muss, nämlich das Erkennen des Erkennens selbst. Zur Einführung und Ausschärfung der eigenen Erkenntnistheorie ist das ein legitimer Ansatz. Nun aber zu behaupten, damit sei Kant widerlegt, ist Unsinn. Denn es müsste zunächst geprüft werden, ob die synthetischen Urteile a priori tatsächlich der Punkt sind, an dem man Kants transzendentale Erkenntnistheorie aufhängen kann. Das aber – und das habe ich in meiner Kritik zu diesem Punkt minutiös nachgewiesen – ist nicht der Fall. Kants “Erkenntnistheorie” auf der Lehre von den synthetischen Urteilen a priori aufzubauen und dann heftig dagegen zu streiten, ist ein Kampf gegen Windmühlen der eigenen philosophischen Phantasie. Von solchen Fällen gibt es in Steiners Schriften etliche. Auch Schopenhauer, Hartmann, Spinoza, Descartes natürlich, auch Fichte oder etwa bestimmte Inhalte der Theologie und des christlichen Glaubens werden auf diese Weise von Steiner traktiert. Ein großer Teil meiner Kritik an Steiners Argumentationsstrategie besteht im ausführlichen Nachweis der Unhaltbarkeit dieses Verfahrens der Urteilsbildung.

Martins: Überhaupt war Kant ein weiterer wichtiger Referenzpunkt für Steiner, von dem er sich offiziell aber meist abgrenzte, ihn gar zum Gegner stilisierte. Dem widersprechen u.a. Helmut Zander und auch der Alanus-Philosophieprofessor Harald Schwaetzer, die Steiner zumindest im Neu-Kantianismus situieren. Wo sehen Sie Steiners Differenzen zu und Übereinstimmungen zu ihm?

Traub: Ich würde zunächst einmal grundsätzlich zwischen Steiners Bezug zu Kant und zum Neukantianismus unterscheiden. Das ist deswegen wichtig, weil es bei Steiner einen originären, differenzierten und nicht nur ablehnenden Bezug zu Kant selbst gibt, der weit über das für den Neukatianismus zentrale Thema der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie hinaus reicht. Aber zunächst zur Verortung Steiners im Neukantianismus. Ich halte die Ausleuchtung des geistesgeschichtlichen Umfeldes, in dem sich Steiner bewegt, für ein fruchtbares und auch notwendiges Forschungsprojekt. Und dabei spielt der Neukantianismus durchaus eine wichtige Rolle. Man muss dabei aber zwei Dinge beachten. Der Neukantianismus ist keine in sich homogene philosophiegeschichtliche Strömung. Das bedeutet, man muss klären: Welches theoretische Problem interessiert Steiner bei welchem Vertretern des Neukantianismus? Thematisch geht es, wenn ich das richtig sehe, vor allem die vom Neukantianismus aus begründete erkenntnistheoretische Kritik am Materialismus. Dieser erkenntnistheoretische Bezug deckt nun aber bei weitem nicht Steiners Verhältnis zu Kant ab. Ich habe den Eindruck, dass die Verortung Steiners im Neukantianismus von der Intention geleitet wird, Steiner in erkenntnistheoretischen Fragekontexten festzusetzen. Das aber wird seinem Verhältnis zu Kant nicht gerecht.

Martins: Wo und wie geht Steiners Verhältnis zu Kant über erkenntnistheoretische Fragen hinaus?

Traub: Mit ihm verbinden sich vor allem auch moralphilosophische Fragestellungen. Denken Sie etwa an die Kerndimension von Steiners Anthropologie, die Unterscheidung zwischen dem “Normal-Menschen” und dem “höheren Menschen”. Hier gibt es eine bemerkenswert enge, wenn auch ambivalente Beziehung zu Kants Lehre vom “niederen” und “höheren Begehrungsvermögen”. Diese, für Steiner höchst relevanten Freiheitsfragen kommen in seiner Auseinandersetzung mit den Vertretern des Neukantianismus nicht zur Sprache. Wegen der Gefahr der Problemverengung habe ich Schwierigkeiten mit dem Thema “Steiner im Neukantianismus”, wie ich überhaupt ein Problem mit der “Ismen” Etikettierung von Philosophen habe. Steiner und der Spiritualismus, Steiner und der Okkultismus, Steiner und der Transzendentalismus oder Steiner und Neukantianismus usw. Die “Ismen-Debatte” läuft meines Erachtens Gefahr, vom lebendigen Gedanken weg zu führen und sich in Strukturgittern philosophiegeschichtlicher Konstruktionen zu verfangen.

Martins: Was wäre Ihr Gegenvorschlag?

Traub: Es ist dringend erforderlich, zwischen unserer Rekonstruktion von Steiners ideengeschichtlichem Umfeld einerseits und den Bezügen zu expliziten, philosophischen Positionen und konkreten Argumentationen, die Steiner selbst herstellt, andererseits, zu unterscheiden. Ich habe mich ausschließlich mit Letzterem beschäftigt. Der Vorteil ist dabei, dass ich mich auf sicherer textlicher Grundlage bewege. Zwar nennt Steiner – etwa in der Philosophie der Freiheit – auch Vertreter des Neukantianismus, Friedrich Albert Lange zum Beispiel, konkrete oder thematische Argumentationszusammenhänge werden aber nicht wirklich hergestellt. Das ist bei Eduard von Hartmann, Fichte oder Kant deutlich anders. Bei diesen Autoren nennt Steiner die konkreten gedanklichen Zusammenhänge, mit denen er sich auseinandersetzt, ja, er zitiert sie gelegentlich, wie etwa Kant mit seinem Pflichtbegriff. Diese Bezüge machen eine Erörterung von konkreten Sachfragen ergiebiger als eine hypothetische Zuordnung “des ganzen Steiner” zu welcher Geistesströmung auch immer. Und nun zu meinem zweiten Punkt. Für eine Einschätzung von Steiners ideengeschichtlichem Kontext ist darüber hinaus eine angemessene Gewichtung der jeweils unterstellten Einflüsse von Bedeutung. Das heißt, neben der Frage: “Was ist unsere Rekonstruktion, und was ist Steiners eigene Referenz?”, muss auch die Frage, “Was ist marginal und was zentral?” mit Blick auf “Steiner und der Neukantianismus” erörtert werden.

Was bleibt nach der ideengeschichtlichen Kontextualisierung?

Martins: Reformulierte Steiner letztlich nur andere Beiträge? Gibt es eine originär Steinersche Position im philosophischen Diskurs seiner Zeit?

Traub: Kontextualisierung ist ein schillernder Begriff. Das habe ich ja soeben anzudeuten versucht. Wenn damit die epochale Kategorisierung Steiners in Strukturraster irgendwelcher “Ismen” gemeint ist, dann tut man seinem philosophischen Ansatz keinen Gefallen. Man muss sich schon der Mühe des geistigen Mitvollzugs seines Denkens unterziehen, wenn man das Eigentümliche seiner Philosophie entdecken will. Im Übrigen bin ich nicht der Ansicht, dass Reformulierung oder Reorganisation mit einem pejorativen Unterton verstanden werden sollte. Ich habe in meinem Buch Marcel Prousts “Gesetz der Optik des Geistes” erwähnt. Dieses “vom Schicksal gewollte Gesetz” ist für Ihre Frage nach der Reformulierung oder Originalität Steiners relevant. Proust behauptet, dass unsere eigene Weisheit dort beginnt, wo die des Autors endet. Was eben auch bedeutet, dass wir die Wahrheit von niemandem erhalten können, sondern dass wir sie selbst schaffen müssen. Was Autoren können, so Proust, ist: “unsere Liebe zu den Dingen zu erwecken, die für sie bedeutungsvoll sind.” Die Schlussfolgerungen müssen wir jedoch selber ziehen und entwickeln.

Wenn wir das “Gesetz der Optik des Geistes” auf Steiner anwenden, dann sehe ich in der epochalen Entdeckung Fichtes, dass vom übersinnlichen Sehen des Ich aus eine wissenschaftlich begründete Weltanschauungslehre entfaltet werden kann, jenen Impuls, von dem Proust spricht, der bei Steiner die Liebe zu den Dingen erweckt hat, die auch Fichte wichtig waren. Nur, und auch darin kommt das “Gesetz der Optik des Geistes” zur Anwendung, ging dieser Anstoß für Steiner nicht weit genug. Fichte hat Steiner, wie Proust sagt, keine Antworten, sondern “Wünsche” gegeben, nämlich insbesondere den: mit dem geistigen Sehen nicht nur die Phänomenologie des sich objektivierenden Geistes, sondern auch die Welt des okkulten Geistes wissenschaftlich, ja, naturwissenschaftlich zu erschließen und für die Lebenspraxis der Menschen fruchtbar zu machen. Ob diese Position wirklich originär ist, darüber kann man streiten. Denn mit dem Okkultismus haben sich ja auch viele andere Philosophen vor Steiner befasst. Die Intensität und Konsequenz aber, mit der Steiner dieses Projekt verfolgt hat, ist wohl einzigartig.

Martins: Natürlich, es gibt den Unterschied von Genese und Geltung. Kontextsensible Situierung – durchaus auch in “Ismen” – entbindet nicht von der inhaltlichen Rekonstruktion und Analyse. Fichtes Entdeckung zu Steiners intellektuellem Kernmotiv zu erklären, halte ich aber für stark spekulativ: Der Philosoph Steiner warf Fichte – bei aller Zustimmung – eben auch vor, er wolle die ganze Welt aus einem Gedankengebäude herausspinnen. Erst als er selbst Esoteriker war, nahm Steiner Fichte auch auf diesem Gebiet in Schutz: Derartiges sei Fichte, Schelling, Hegel “niemals eingefallen” (GA 35, 95).

Traub: Das ist nun ein sehr weites Feld, das Sie hier eröffnen. Aber ich gehe gerne darauf ein. Zuerst möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen, dass sich Steiner zu Fichtes “Freiheitstat der Selbstsetzung des Ich” und auch zu anderen Theoremen seiner Philosophie bereits vor der Abfassung der Philosophie der Freiheit explizit bekannt hat. Quellen dazu sind sowohl Steiners Briefwechsel als auch seine Dissertation. Letztere spricht Fichte, neben der Entdeckung des “höheren Sehens”, das Verdienst gegenüber Kant zu, dessen vermeintlich formales Wissen des “Ich denke” in die Forderung und Realisierung eines aktualen und unmittelbaren Vollzugswissens übersetzt zu haben. Die Zustimmung des jungen Steiner zu Fichte insbesondere zu diesem Punkt habe ich im Buch intensiv recherchiert und nachgewiesen. Ein weiterer Punkt der enthusiastischen Zustimmung Steiners zu Fichte – und zwar vor seiner theosophischen Konversion – betrifft Fichtes Liebeslehre aus der Anweisung zum seligen Leben. Auch den Vorbildcharakter des Wissenschaftsethos, das Fichte in seinen Vorlesungen über den Gelehrten entworfen hat, wird man für den jungen Steiner reklamieren dürfen. Die These, dass Steiner Fichte, den Philosophen des Ich, erst als Anthroposoph positiv rezipiert und verteidigt haben soll, ist m. E. nicht zu halten. Allerdings haben Sie Recht, wenn Sie sagen, dass Steiner nicht allen Konsequenzen zustimmen konnte, die Fichte aus der “Thathandlung” abgeleitet hat. Das ist aber kein Argument gegen Steiners grundsätzliches Bekenntnis zu einer Vielzahl von Theoremen der Philosophie Fichtes insbesondere zu dessen Theorie einer transzendentalen sowie existenzbezogenen Selbstkonstituierung des Ich.

“Übersinnliches Sehen”. Fichte und das Okkulte

Martins: Nochmal zum von Ihnen angesprochenen übersinnlichen Sehen bei Steiner und Fichte. Ich möchte nicht Ihre zweifellos größere Kompetenz in Sachen Fichte herausfordern, aber wenn ich ihn richtig verstehe, ist dort die “intellektuelle Anschauung” zwar ein geistiges Sehen, aber das heißt nicht, dass man Geister sieht, sondern es geht um eine reflexive und auch phänomenologische Selbstkonstitution des Ich: Dieses Ich erzeugt sich in der Reflexion auf sich selbst. Und ohne auf Kants Kritik dieses Topos – dass Anschauung nicht ohne Sinnlichkeit möglich ist – einzugehen, würde ich behaupten, dass der okkulte Geist oder die Ideenschau der Akasha-Chronik sich davon doch qualitativ unterscheiden. In Fichtes Bestimmung des Menschen schaut mich zwar alles “aus hellen Geister-Augen” an, aber Fichte präzisiert: “Auf das mannigfaltigste zerteilt und getrennt schaue in allen Gestalten außer mir ich selbst mich wieder, und strahle mir aus ihnen entgegen...” Bei Steiner dagegen treten dem Geistesforscher Engel und Geister als von mir autonome Subjekte und reale Wesenheiten entgegen. Ist diese Fortschreibung Fichtes durch Steiner wirklich eine Verlängerung oder nicht auch eine entscheidende Transformation von Fichtes Anspruch?

Traub: Da möchte ich auf folgenden Umstand aufmerksam machen. Sie haben sicher Recht, dass es schwierig ist, die philosophische Theorie der “intellektuellen Anschauung”, wie sie Fichte in seiner Wissenschaftslehre vertritt, mit einer esoterischen Wesensschau zu vereinbaren. Allerdings sind für eine angemessene Beurteilung dieses Themenkomplexes drei Dinge mit in Betracht zu ziehen, die bei Fichte selbst über eine enge, rein philosophische Analyse der intellektuellen Anschauung hinausweisen:

1. Es gibt im Denken Fichtes einen apokalyptischen Zug, der mit seiner frühen Berufswahl, Pfarrer zu werden, zusammenhängt. Apokalyptische Symbolik finden wir nicht nur in Fichtes frühen Predigten, sondern auch in seinen späteren populär-philosophischen Vorträgen. Denken Sie etwa an die Vision von der Endzeit und dem Anbruch der Heilszeit beim “Seher” Hesekiel, mit der Fichte im realpolitischen Kontext seiner Reden an die deutsche Nation im Jahre 1808 arbeitet. Auch die Engel- und Teufelszenarien aus der Apokalypse des 2. Petrusbriefs oder aus der Offenbarung des Johannes gehören zum Arsenal der Fichteschen Bildersprache. Übrigens hat Nietzsche über eines dieser von Fichte verwendeten apokalyptischen Bilder einen interessanten Aphorismus unter dem Titel “So ruft mit großem Munde der große Fichte” verfasst.

2. Worüber man sich beim Thema Fichte und der Okkultismus auch im Klaren sein sollte ist der Umstand, dass Fichte in seiner Berliner Zeit nicht nur Mitglied einer Freimaurerloge, sondern “Oberredner im Inneren Orient der Großloge” war. Wer sich in der Freimaurerei ein wenig auskennt, weiß, dass damit ein vertieftes Wissen über die freimaurerische Lehre, die Geheimzeichen, die Zahlensymbolik usw. verbunden ist. Fichte hat mehrere Reden in den Logen über das Wesen der Freimaurerei gehalten und stand in seiner Jenaer Zeit lange Zeit im Verdacht, selbst eine geheime, illuministische Gesellschaft gründen zu wollen.

3. Fichte hat sich überdies intensiv mit dem Mesmerismus befasst. Seine Überlegungen dazu hat er im “Tagebuch über den animalischen Magnetismus” festgehalten. I. H. Fichte hat über den etwas kryptischen Text ein hochinteressantes Urteil gefällt. Es sei ein Text, der zum Einen den Mittelpunkt des Idealismus am deutlichsten und tiefsten erfasst, und es sei der Text, der zeige, nach welchen Seiten hin Fichtes Idealismus weiterer Ausführungen bedürfe. Gemeint ist damit I. H. Fichtes Psychologie und Anthropologie, die eben auch eine Phänomenologie des Okkulten beinhalten.

Martins: Interessante Hinweise! Es gibt m.E. auch tatsächlich erstaunliche Parallelen zwischen einigen journalistischen Aufsätzen aus Steiners Wiener Zeit – z.B. die Polemik Papsttum und Liberalismus – zu Fichtes “Philosophie der Maurerei” (1802/3). Aber was bedeutet all das für die Frage nach dem Wesen des  inneren Sehens bei J. G. Fichte und dessen Verhältnis zum Okkultismus?

Traub: Meines Erachtens war Fichte selber sehr daran interessiert – und das besagen die Hinweise, die ich soeben gegeben habe –, die Grenzen und Möglichkeiten einer Erweiterungen der Prinzipien seiner exoterische Philosophie auf Gebiete des Esoterischen auszuloten. Das Thema “Fichte und Mystik” hat in der Fichte-Forschung eine lange Tradition. Möglicherweise liegt in diesem Themenkomplex eines der Motive dafür, dass Steiner den alten Fichte für einen der bedeutenden Wegbereiter der Anthroposophie erklärt hat. Dass sich Fichtes Zugang zur Esoterik und zum Okkulten eher abgeklärt protestantisch als überbordend und bildreich katholisch wie bei Steiner gestaltet, ändert nichts an der Tatsache, dass eine gewisse Nähe, wenn nicht gar Affinität Fichtes zum Okkulten zu konstatieren ist. Ein Zug, der, wenn man I. H. Fichtes Berichten über sein Elternhaus folgt, auch durch Johanne Marie Fichte, der Gattin des Philosophen, unterstützt wurde. Ein Letztes: Sie haben auf den Unterschied zwischen der Annahme objektiver okkulter Wesenheiten bei Steiner und den eher subjekttheoretischen Charakter in Fichtes Lehre vom “höheren Sehen” hingewiesen. Dem kann ich nur bedingt zustimmen. Denn in Fichtes Theorie des Geisterreichs tritt die “ideale Individualität” (Originalität) des einzelnen Menschen in Beziehung zu anderen, durchaus objektiven Geistern. Und was Ihr Zitat aus der Bestimmung des Menschen betrifft, so könnte man mit Recht danach fragen, ob es sich dabei nicht um eine Fichte spezifische Fassung des “tat twam asi” (das bis du), das heißt um die individualitätserhaltende gleichwohl aber universalitätserschließende Einheitserfahrung der indischen Mystik handelt. Wie gesagt: Ein weites Feld.

Theosophie, Anthroposophie und “östliche” Philosophie

Martins: Der von der Waldorfzeitschrift “Erziehungskunst” beschäftigte Wachhund einer ultrakonservativen Steinerdeutung, Lorenzo Ravagli, hat Ihr Buch in einer Rezension wie folgt vereinnahmt: “Traubs Untersuchung führt einen tausendseitigen Nachweis darüber, dass sowohl Steiners Philosophie als auch die Anthroposophie mit allen denkbaren Wurzeln und Fasern in der Philosophie des deutschen Idealismus verankert ist und dass die zuletzt von Helmut Zander weitschweifig erhobene Behauptung, die Anthroposophie sei ein Abklatsch der Adyar-Theosophie, offenbar auf einem grundlegenden Missverständnis beruht.” Schließen Sie tatsächlich eine Beeinflussung Steiners durch die theosophische Kosmo- und Anthropologie aus?

Traub: Nein, das tue ich nicht. Meine These lautet ja nicht, dass es den Einfluss der Adyar-Theosophie nicht gegeben hat. Sondern ich habe zu zeigen versucht, dass sich Steiners Auseinandersetzung mit den östlichen Weisheitslehren auf der Grundlage und im Interpretationsrahmen europäischer Ideen- und Geistesgeschichte vollzog. Diesem Kontext sind ja weder der Reinkarnationsgedanke noch okkultes Denken oder Einweihungsrituale und Geheimwissenschaften fremd. Allerdings darf man bei aller ideengeschichtlichen Kontextualisierung nicht ganz außer Acht lassen, dass bei Steiners “Adaptionsbiographie”, die ja nicht auf die Philosophie des Ostens beschränkt ist, auch die Frage nach einer sicheren “Berufsperspektive” stets eine Rolle gespielt hat. Neben dem zweifellos sachlichen “Fascinosum” der östlichen Weisheitslehren, dem sich Steiner nicht entziehen konnte und auch nicht entziehen wollte, wird sicher auch ein “kalkulatorisches” Moment mit im Spiel gewesen sein.

Martins: Oh ja! Aber erlauben Sie einen Einwurf zur “östlichen” Theosophie. In meiner Rezension zu Ihrem Buch habe ich geschrieben: “Das Indienbild Steiners und der Theosophen hatte mit buddhistisch-hinduistischer Geistigkeit so viel zu tun wie ein Zitrone-Lotusblüte-Tee Marke Pfanner mit einer japanischen Teezeremonie.” Das ist zwar Polemik, aber für falsch halte ich zumindest die These, dass die Theosophie eine “östliche” Philosophie sei: Die evolutionäre Anthropologie Blavatskys und Sinnets – versunkene Kontinente, eine Abfolge von “Rassen” als Medien der Evolution usw. – hat sehr detaillierte Vorbilder im französischen Martinismus, v.a. von Fabre d’Olivet und gleicht in der “rassisierten” Struktur mehr Haeckel als einer brahmanischen Emanationsvorstellung. Die siebenfältige Kosmologie entstand, darauf hat Joscelyn Godwin aufmerksam gemacht, ausgerechnet in der Auseinandersetzung mit der Hermetic Brotherhood of Luxor, wo man versuchte, die vier “yugas” mit den biblischen Schöpfungstagen auf einen Nenner zu bringen. Überdies fällt auf, dass Blavatsky sich laut Tagebuchnotizen im fraglichen Zeitraum mit Johannes Trithemius’ De septem secundeis auseinandersetzte, ebenfalls ein jeweils siebenstufiges Geschichtsmodell. Die theosophische Meditationspraxis scheint, wie Karl Baier 2009 überzeugend dargestellt hat, weit weniger mit “indischer” Kontemplation zu tun zu haben, als vielmehr mit dem Mesmerismus, mit dem sich auch Schopenhauer und – wie sie schon sagten – Fichte beschäftigt haben. Überdies werden in Blavatskys “Geheimlehre” dutzende Male Leibniz, Schelling und Hegel bemüht und zitiert. Ich behaupte, nicht Steiner machte eine “östliche Phase” durch, sondern die Theosophie war letztlich eine “östlich” explizierte Position innerhalb westlich-esoterischer Strömungen. Gehen Sie da mit?

Traub: Wenn ich das richtig verstanden habe, dann vertreten Sie eine Applikationsthese, die noch weiter geht, als das, was ich in meinem Buch über Steiner und die östliche Weisheit gesagt habe. Ob bei ihm oder anderen ein ernstes und genuines Interesse an indischer Philosophie vorliegt oder nur ein Projektionsprozess europäischer Ideen in Horizonte hinduistischen Denkens vollzogen wird, darüber müsste im Einzelfall entschieden werden. Meine These ist ja nur, dass ich Steiner – bei aller Sympathie für außereuropäische Geistesströmungen – eine grundlegend europäisch, genauer idealistisch geprägte Weltanschauung unterstelle.

“Es gibt keine Schlusssteine in der Philosophie”

Martins: Sympathie oder Antipathie, auch darüber wäre zu diskutieren. Ernstes Interesse am Hinduismus würde ich den Theosophen natürlich auch nicht absprechen, aber ich glaube, dass sie den Hinduismus vor allem als Antwort und Autorität in Disputen des westlichen Okkultismus heranzogen. Um nochmal auf die “Erziehungskunst”-Rezension zurückzukommen: Ravagli dient der Nachweis, dass Steiner in der Denktradition des Deutschen Idealismus zu verorten sei, natürlich nicht zur geistesgeschichtlichen oder kritischen Einordnung, sondern um die Anthroposophie als Erbin oder vermeintlichen Schlussstein deutscher Philosophie in toto legitimieren zu können. Grundlage ist hier eine apologetisch-retrospektive Deutung von Steiners früher Philosophie durch die Brille seiner späteren Esoterik. Es wird vorausgesetzt, dass Steiner immer schon auf seine spätere sog. “Initationswissenschaft” hingearbeitet habe. Wie beurteilen Sie eine solche Interpretation?

Traub: Auf die Schwierigkeiten der retrospektiven Interpretation bin ich ja schon eingegangen. Was die “Initiationswissenschaft” angeht, habe ich auf den bemerkenswerten Methodenwechsel in Steiners philosophischer Didaktik hingewiesen. Während Steiner insbesondere die Philosophie der Freiheit als ein denkerisches “Selbsterfahrungsabenteuer” inszeniert, haben die späteren Schriften eher den Charakter von “Lehrdidaktiken”. Sie sind weniger Experiment als vielmehr Anleitung. Exemplarisch für diesen Wechsel sei auf die in meinem Buch intensiv erörterten Konsequenzen aus Steiners interpretatorischer Neujustierung des Einstiegs in die Philosophie der Freiheit in der zweiten Auflage hingewiesen. Was nun den ersten Teil Ihrer Frage betrifft, so besteht zwischen der darin aufgestellten Vollendungsthese und Grundlegungsthese kein notwendiger Zusammenhang. Denn die Vollendung des deutschen Idealismus in Steiners esoterischer Anthroposophie setzt deren Annahme als Grundlage für den Vollendungsprozess nicht voraus. Hier sind wir wieder beim Thema “Teleologie” und der Frage nach der Möglichkeit, Zweckbegriffe als Ursachen für geistesgeschichtliche Entwicklungsprozesse annehmen zu können. Ich wiederhole das gerne noch einmal, Steiner hat entschieden bestritten, dass man das auf eine seriöse Weise tun kann.

Noch ein Wort zum Bild: “Die Anthroposophie sei der Schlussstein der Entwicklung des Idealismus.” Schlusssteine haben das Unangenehme an sich, dass nach ihrem Einsatz eine lebendige Bauphase beendet wird. Für die Philosophiegeschichte mit solchen Bildern zu arbeiten, halte ich angesichts dessen, worum es hier geht, nämlich um den lebendigen Geist, für wenig angemessen. Insbesondere dann, wenn ein solcher Schlussstrich für das ganze Unternehmen des Denkens und Wirkens Rudolf Steiners, der deutschen Philosophie oder der Philosophie und Geistesgeschichte überhaupt reklamiert wird. Das zu postulieren ist ebenso sinnlos, wie mit Netzen einen Fluss am Fließen hindern zu wollen. In diesem Zusammenhang darf ich vielleicht auf das Buch eines der tiefsinnigsten Idealismusforscher der Gegenwart hinweisen. Es trägt den für unser Thema sehr sprechenden Titel: Die dreifache Vollendung des Idealismus. Der Autor, Wolfgang Janke, kommt in diesem Buch zu dem Ergebnis, dass es neben den großen systematisch durchgearbeiteten Vollendungsgestalten des Idealismus in den Werken Fichtes, Schellings und Hegels vor allem Fichtes “ungeschriebene Lehre”, also die verlebendigende Kraft des mündlichen Vortrags ist, in der der Geist des Idealismus “vollendet” zum Ausdruck kommt, das heißt, worin er sich stets erneuert und weiterentwickelt. Es gibt keine Schlusssteine in der Philosophie. Sie zu proklamieren ist nicht die Vollendung, sondern das Ende der Philosophie.

Martins: Wie sieht dann das Verhältnis von Philosophie und anthroposophischer Geisterseherei aus? Führt von Kant und Fichte ein Weg zum Postulat atlantischer Planetenorakel, asurischer Heerscharen, zweier Jesusknaben oder Buddhas Mission auf dem Mars?

Traub: Ich habe ja schon gesagt, dass Steiner nach dem “Gesetz der Optik des Geistes” durch Fichte auf den Weg gebracht wurde, das übersinnliche Sehen weiter zu entwickeln und auch auf das Okkulte anzuwenden. Auf die Ansätze zu einem solchen Unternehmen bei Fichte selbst habe ich ja ebenfalls hingewiesen. Wie weit eine seriöse Forschung in dieser Sache gehen kann, das mag ich nicht abschließend zu beurteilen. Denn auf meinem Weg durch die philosophischen Frühschriften Steiners steht nach der geleisteten Grundlegung als nächstes die Skizzierung eines Grundrisses seiner Philosophie an. Das heißt, ich möchte im Ausgang von meiner kritischen Analyse und ohne anthroposophische Anleihen die Elemente und Strukturen des philosophischen Denkens Rudolf Steiners entwickeln. Das wäre dann die Voraussetzung für einen exoterischen Deutungsversuch von Steiners Esoterik. Die Frage, was es mit den von Ihnen angesprochenen Phänomenen auf sich hat, ob es sich dabei um esoterische Denksportaufgaben, okkulte Fantasy oder diskussionswürdige Verbildlichungen geistiger Phänomene handelt, bleibt abzuwarten.

“Liquidiert wurde der anarchistische ‘Aufbruch in die Freiheit’”

Martins: Steiner hat seine Frühschriften nach 1900 einer esoterischen Relektüre unterzogen und die philosophischen Positionen teilweise stark überarbeitet. Welche Topoi wurden in dieser apologetischen Neudeutung liquidiert und welche kamen neu hinzu?

Traub: “Liquidiert”, wenn ich diese Vokabel aufgreifen darf, wurde der anarchistische “Aufbruch in die Freiheit”, also das, was den frühen Steiner – auch Stirner, Nietzsche und Fichte – besonders anziehend macht: Das Freiheitsmotiv, das die Philosophie seit ihren europäischen Anfängen in denkenden Wesen anspricht und zum Klingen bringt, der unüberwindliche Glaube an die selbstschöpferische Kraft des Individuums. Da Stirner noch Nietzsche und auch Fichte keine “Kirche” gegründet haben, bestand für sie kein Anlass, sich von ihrem radikalen Freiheitsbekenntnis zu distanzieren. Bei Steiner ist das anders. Wie bei der Bildung aller Organisationen wurde im Zuge der wachsenden Institutionalisierung seines anthroposophischen Unternehmens auch für ihn die Kanonisierung der Lehre zu einer drängenden Aufgabe. Absicherung gegen Fehldeutungen, der Umgang mit Abweichlern und Häretikern rufen nach autorisiertem Dogma und Deutungshoheit in Zweifelsfragen. Zanders Steiner-Biographie zeigt dieses Problem sehr schön am Spannungsverhältnis zwischen der anthroposophischen Gesellschaft und der von Steiner gegründeten Christengemeinde. Was für Steiner jetzt in den Vordergrund rückt sind systemische Strukturen: eine ausgefeilte Seelentopographie, eine dezidiert seherische Haltung gegenüber den philosophischen Themen, wobei das Seherische nicht mehr das intellektuelle Sehen des Idealisten, sondern die inspirierte Schau des Mystikers meint. Auch an den didaktischen Wandel – vom denkerischen Selbstexperiment zur geistigen Anweisung – sei hier noch einmal erinnert. Es ist insgesamt ein Wechsel von einer Begriffssprache zu einer Bildsprache, ein Wechsel von rationalem zu spirituellem Denken zu verzeichnen.

“Löcher im Kerygma”

Martins: Der vor-theosophische Steiner wird, wo man ihn nicht auch schon zum Okkultisten erklärt, gern zum Freigeist und radikalen Religionskritiker stilisiert. Sie dagegen sehen beim frühen Steiner dezidiert religionsphilosophische Theoreme. Was sind deren Kernpunkte – und warum hat Steiner die Gottesbezüge in seiner “Philosophie der Freiheit” in der theosophischen Überarbeitung 1918 nahezu geräuschlos entfernt?

Traub: Steiners Kindheit umfängt ein anthroposophischer Mythos. Das Motiv für die Stilisierung des Freigeists und Technikfreaks Rudolf Steiner beruht auf einem Kompatibilitätspostulat, das verlangt, dass alles aus Steiners Biographie, was dem anthroposophischen Deutungsmonopol widerspricht, entweder umgedeutet oder ignoriert wird. Das ist ein aus dem Gemeindebildungsprozess des Christentums bekannter und gut erforschter Vorgang. Lassen Sie mich das kurz erläutern. Der durch Christus gestiftete Glaube impliziert eine bestimmte Deutung Jesu zu den Verhältnissen seiner Zeit. Dazu gehörte unter anderem die oppositionelle ja feindselige Haltung von Pharisäern und Schriftgelehrten gegenüber Jesus. Schließlich, so will es die Überlieferung, waren sie ja auf seinen Tod bedacht. Bei der Verfassung der Evangelien wurde durch die gläubigen Evangelisten genau darauf geachtet, dass dieses Bild kanonisiert wurde. Leider, oder Gott sei Dank, sind sie mit dem vorliegenden Quellenmaterial nicht konsequent umgegangen. Denn – wie der Theologe Ernst Käsemann herausgefunden hat – gibt es Stellen im Neuen Testament, in denen sich die Todfeinde Jesu als dessen Beschützer erweisen, die ihn vor den Nachstellung des Herodes warnen (Luk. 13, 31). Jesus nimmt die Warnung an und entflieht dem Machtbereich des Herodes. Diese mit dem Glauben (Kerygma) inkompatiblen Ereignisse im Leben Jesu werden “Löcher im Kerygma” genannt. Denn sie ermöglichen Einblick in Lebensumstände Jesu, die mit der durch den Glauben geprägten Auffassung vom Leben Jesu nicht vereinbar sind.

Martins: Und wo liegen diese “Löcher” in der mythifizierten Kindheitsgeschichte Steiners?

Traub: Ähnlich wie die Evangelisten, so geht auch die anthroposophische Steiner-Forschung mit der Kindheit Steiners um. Es führt sicher zu weit, die Ergebnisse meiner Untersuchung zur religiösen Sozialisation Steiners im Einzelnen hier vorzutragen. Aber soviel kann man in aller Kürze sicher behaupten: Steiner hatte als Kind ein positives Verhältnis zur katholischen Kirche, insbesondere zu “mystikaffinen” Elementen der Liturgie. Auch das asketische Leben der Mönche hatte einen besonderen Reiz für ihn. Dieser Eindruck muss im Zusammenhang mit der religiösen Sozialisation von Johann Steiner gesehen werden. Rudolf Steiner hat an den Reformbestrebungen der Katholischen Kirche großes Interesse gezeigt. Letztlich mündet seine katholische Biographie in der Gründung einer Kirche, deren (alt)katholische Prägung kaum zu übersehen ist. Religionskritik und tiefer Glaube sind keine Gegensätze, sondern komplementäre Verhaltensmuster. Es sind gerade tiefreligiöse Menschen, die die größten Kirchen- und Religionskritiker sind und waren. Denken Sie etwa an Martin Luther. Die Religionsgeschichte lebt in ihrer Vielfalt geradezu von Häretikern und Schismatikern.

“Die Welt ist Gott”

Traub: Zu Ihrer zweiten Frage [nach den entfernten Gottesbezügen – AM] möchte ich sagen, dass ich das nicht so sehe, dass die zweite Auflage der Philosophie der Freiheit Gottesbezüge geräuschlos entfernt hätte. Der dritte Teil “Die letzten Fragen” enthält nach meiner Lesart eine eigenständige theologische Kosmologie, in der das “Leben in Gott” den Höhepunkt der Steinerschen Intuitionslehre bildet. Auch an anderen Stellen der Philosophie der Freiheit setzt sich Steiner ausführlich mit der Gottesfrage auseinander. Von einer Entfernung der Gottesbezüge in der zweiten Auflage würde ich nicht sprechen. Denken Sie da eine spezielle Passage?

Martins: Ich denke weniger Passagen – so lang ist das Kapitel ja nun schlicht nicht – als eindeutige Formulierungen, beispielsweise Steiners spinozistisch-pantheistisch angehauchte Aussage: “Die Welt ist Gott”. Diese Definition schickte Steiner in der 1. Auflage dem “Leben in Gott” voraus. In der 2. Auflage der “Philosophie der Freiheit” fehlt sie.
Exkurs Spinoza: Welterkenntnis sei Gotteserkenntnis. “Da ferner ohne Gott nichts sein noch begriffen werden kann, so ist gewiss, dass jedes Ding in der Natur entsprechend seinem Wesen und seine Vollkommenheit ausdrückt. Je mehr wir daher die natürlichen Dinge erkennen, desto größer wird auch unsere Erkenntnis Gottes ... Und so hängt also unsere ganze Erkenntnis, d.h. unser höchstes Gut, nicht so sehr von der Erkenntnis Gottes ab, sondern besteht vielmehr ganz und gar aus ihr.” (Spinoza, Tractatus Theolologico-politicus, in: Sämtliche Werke, III, 68)
Traub: Was die “Korrektur” des Textes zur zweiten Auflage im Hinblick auf die Formulierung “Die Welt ist Gott” betrifft, stimme ich Ihnen zu. Man kann diese Streichung in der zweiten Auflage vielleicht aus der Befürchtung Steiners verstehen, das “ist” in der Formulierung “Die Welt ist Gott” als eine Ontologisierung seines Gottesverständnisses zu missdeuten. Meines Erachtens ist diese Befürchtung aber unbegründet. Denn der Kontext des Kapitels lässt eine solche Missdeutung eigentlich nicht zu. Steiner erläutert ja im Vorfeld, dass das mit Gedanken erfüllte Leben in der Wirklichkeit “ein Leben in Gott” ist. Wobei Wirklichkeit die lebendige Einheit von Wahrnehmungs- und Ideenwelt meint. Eine ontologisierende oder transzendierende Projektion dieses Lebens in ein Jenseits oder eine transzendente Substanz ist an dieser Stelle gänzlich auszuschließen. Folglich führt der Versuch, die lebendige Wirklichkeit, also die Einheit von Wahrnehmungs- und Ideenwelt, über ihre individualitäts- und interpersonalitätsbezogene Erlebnisqualität, das heißt über das “Leben in Gott” hinaus, in ihrer objektiven Realität zu denken, schlüssig auf den Satz: “Die Welt ist Gott.”

Martins: Noch einmal zurück zu Steiners religiöser Prägung in seiner Kindheit: Eine religionsaffine Sozialisierung Steiners fände ich zwar plausibel, aber das einzige Dokument, das wir dazu heranziehen können – seine Autobiographie “Mein Lebensgang” – ist in vielen Passagen stark apologetisch und eine rückblickende Selbststilisierung des über sechzigjährigen Steiner. Wieso sind Sie so optimistisch ob deren Verlässlichkeit?

Traub: Zur Frage, warum ich die Auskünfte aus “Mein Lebensgang” im Hinblick auf meine Analysen zu Steiners religiöser Sozialisation für verlässlich halte, möchte ich dreierlei sagen. Das Erste ist ein erziehungswissenschaftliches Plausibilitätsargument, das sich auf unsere Erfahrungen mit Enkulturations- und Sozialisationsprozessen stützt. Vorausgesetzt, Steiners Angaben zur Biographie seiner Eltern enthalten im Kern etwas Zutreffendes, dann ist schwer verständlich zu machen, warum die klösterliche Prägung seines Vaters keine Rolle für die weltanschauliche Entwicklung des Sohnes gespielt haben soll. Vor allem dann, wenn es für diese Annahme weitere positive Anhaltspunkte aus der Biographie Steiners selbst gibt. Das zweite Argument für eine starke Auslegung der religiösen Sozialisation beruht auf dem, was ich eben zu Ernst Käsemann und den “Löchern im Kerygma” gesagt habe. Gerade weil Steiner selbst und insbesondere die anthroposophische Steinerdeutung die von mir herausgearbeiteten Aspekte der Biographie gerne ausblenden, weil sie dem Bild vom Freigeist widersprechen, muss man ihnen meines Erachtens besondere Aufmerksamkeit schenken. Das Dritte ist, dass, außer in “Mein Lebensgang”, in Steiners Briefen und seinen frühen Schriften Stellungnahmen zu theologischen und religiösen Phänomenen vorliegen, die gemeinsam mit den Kommentaren zur Biographie ein einigermaßen klares Bild über gewisse Eckpunkte seiner frühen religiösen Prägung ergeben. So stützt etwa Steiners Kritik am Rationalismus des Protestantismus seine Berichte über die Faszination, die die katholische Liturgie oder das “Geheimnis” des klösterlichen Lebens auf ihn ausgeübt haben. Oder Steiners positive Bewertung des Altkatholizismus in seinen Briefen ergänzen plausibel seine Kritik an der autoritären Beichterfahrung, wie sie sich in der Philosophie der Freiheit findet usw.

Sackgassen und Forschungslücken

Martins: Die Etablierung einer nichtanthroposophischen Steinerforschung steht bisher aus bzw. steckt noch in den Kinderschuhen einer grundsätzlichen historisch-kritischen Erschließung. Welche Funde und Innovationen würden Sie hier erwarten?

Traub: Im Anschluss an meine Ausführungen zu Steiners religiöser Sozialisation erwarte ich zunächst die Komplettierung der von der Anthroposophie einseitig betonten naturwissenschaftlichen Prägung Steiners sowie der daraus abgeleiteten fundamentalistischen Kanonisierung der Erkenntnistheorie als einzigem Deutungsrahmen der Philosophie Rudolf Steiners. Das hätte zur Folge, dass auch andere bedeutende Felder seines Denkens, solche, die nicht durch die Erkenntnistheorie dominiert werden, zur Sprache kommen könnten. Selbstverständlich sehe ich die Bedeutung, die Steiners Arbeit an Goethes naturwissenschaftlichen Schriften für seine Weltanschauung hatte. Was ich aber auch sehe, und zwar mit großem Bedauern für die Vielfalt der Themen des Steinerschen Denkens, ist, dass die Fixierung des Blicks auf den naturwissenschaftlichen Goethe und durch ihn auf eine idealistisch vervollständigte Naturwissenschaft in eine interpretatorische Sackgasse führt. 
Dem korrespondiert meines Erachtens auch der oben erwähnte Versuch, den betont erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch ausgelegten Neukantianismus für die Philosophie Rudolf Steiners fruchtbar machen zu wollen. Was aussteht ist unter anderem: Die Klärung der Frage nach der Freiheit des Geistes im existenziellen wie theoretischen Sinn, die Konzeptionalisierung der frühen Erkenntnistheorie, die Grundlegung einer Ethik aus dem Geist der Freiheit, die Entwicklung einer Theorie und Praxis der Interpersonalität und die einer Kulturgeschichte der moralischen Entwicklung, das Problem ethischer Implikationen naturwissenschaftlicher Forschung, die Frage nach einer philosophisch begründeten Idee von Kunst, Religion und Wissenschaft, die Einbettung der unterschiedlichen Themen in eine philosophische Kosmologie inklusive einer produktiven Religionskritik, die Klärung des Verhältnisses von Intuition und begrifflicher Argumentation. Das alles sind brachliegende Felder im philosophischen Denken Rudolf Steiners, deren Fruchtbarmachung und kohärente Darstellung ohne interpretatorische Hilfestellungen der esoterischen Anthroposophie auskäme und die überdies mehr zu bieten hätten, als eine erkenntnistheoretisch begrenzte Naturforschung. Ich denke und hoffe, dass wir in zehn Jahren über diese Themen eine breitere Diskussion in der Steiner-Forschung führen werden.

Martins: Da bin ich leider mit Blick auf die bisher mangelnde Diskussionsbereitschaft weiter anthroposophischer Kreise skeptisch. Aber ich hoffe mit und bin gespannt. Danke für Ihre Antworten!

Dr. Hartmut Traub ist Studiendirektor am Seminar für schulpraktische Lehrerbildung in Essen und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft. Promotion über Fichtes Populärphilosophie und Herausgeber u.a. des Briefwechsels zwischen Schelling und Fichte, der Fichte-Studien und der Fichte-Studien Supplementa. Lehraufträge in Philosophie und Philosophie-Didaktik an der Mercator Universität Duisburg, der Universität Duisburg/Essen und der Alanus-Hochschule Alfter.

1 opmerking:

John Wervenbos zei

Uitstekend blogartikel en nuttige naslagbron Michel. Met veel belangstelling gelezen. Bestudeer momenteel opnieuw Steiners geschrift Filosofie en Antroposofie, zie ook Philosophie und Anthroposophie (1908) en over enige tijd ook weer zijn voordrachtenreeks De filosofie van Thomas van Aquino. Heeft echt een meerwaarde, (weer) ouder en rijper geworden opnieuw dezelfde geschriften en voordrachten Rudolf Steiner bestuderen. Je haalt er dan weer zulke nieuwe dingen uit en binnen zulke bredere en diepere contexten dikwijls ook. Zo werkt het bij mij althans.

Zal dit artikel PDF’en en er ook een ePub van maken voor mijn e-reader. De door Steiner gesuggereerde incarnatiereeks van Fichte is bepaald wel een verrassing voor me. Zal ik nader op me laten inwerken en kalm overdenken; rustig de tijd geven en gunnen.

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(Hilversum, 1960) – – Vanaf 2016 hoofdredacteur van ‘Motief, antroposofie in Nederland’, uitgave van de Antroposofische Vereniging in Nederland (redacteur 1999-2005 en 2014-2015) – – Vanaf 2016 redacteur van Antroposofie Magazine – – Vanaf 2007 redacteur van de Stichting Rudolf Steiner Vertalingen, die de Werken en voordrachten van Rudolf Steiner in het Nederlands uitgeeft – – 2012-2014 bestuurslid van de Antroposofische Vereniging in Nederland – – 2009-2013 redacteur van ‘De Digitale Verbreding’, het door de Nederlandse Vereniging van Antroposofische Zorgaanbieders (NVAZ) uitgegeven online tijdschrift – – 2010-2012 lid hoofdredactie van ‘Stroom’, het kwartaaltijdschrift van Antroposana, de landelijke patiëntenvereniging voor antroposofische gezondheidszorg – – 1995-2006 redacteur van het ‘Tijdschrift voor Antroposofische Geneeskunst’ – – 1989-2001 redacteur van ‘de Sampo’, het tijdschrift voor heilpedagogie en sociaaltherapie, uitgegeven door het Heilpedagogisch Verbond

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