Bedoeld is: antroposofie in de media. Maar ook: in de persbak van de wijngaard, met voeten getreden. Want antroposofie verwacht uitgewrongen te worden om tot haar werkelijke vrucht door te dringen. Deze weblog proeft de in de media verschijnende antroposofie op haar, veelal heerlijke, smaak, maar laat problemen en controverses niet onbesproken.

zondag 3 augustus 2014

Verontrusting

Het zijn ernstige tijden. ‘Hollande en Gauck herdenken samen de Eerste Wereldoorlog’ schreef Laura Klompenhouwer vanmiddag op de website van NRC Handelsblad:
‘De Franse president François Hollande heeft vandaag met zijn Duitse ambtgenoot Joachim Gauck de Eerste Wereldoorlog herdacht, die voor de twee landen precies honderd jaar geleden begon. Ze stonden tijdens de ceremonie in de Elzas, waar alleen al 30.000 mensen omkwamen, stil bij de miljoenen slachtoffers van de oorlog. Het was de eerste keer dat een Duits staatshoofd de herdenkingsceremonie bijwoonde, meldt persbureau AP.

Beide presidenten legden een verband tussen het verleden en het heden. Ze riepen de strijdende partijen in Gaza op een einde te maken aan de wederzijdse vijandigheid, net als Duitsland en Frankrijk eerder deden.

Hollande herinnerde eraan dat Duitsland en Frankrijk ooit gezworen vijanden waren, maar die animositeit achter zich hebben gelaten om vrede mogelijk te maken. Anderen kunnen dat ook, benadrukte Hollande.

“De geschiedenis van Frankrijk en Duitsland toont aan dat de wil het altijd kan winnen van fatalisme en dat mensen die erfelijke vijanden zijn zich binnen een paar jaar kunnen verzoenen.”

Hollande riep de wereld op een voorbeeld te nemen aan de betrekkingen tussen Frankrijk en Duitsland als les in vredestichten. De Duitse president Joachim Gauck vergezelde Hollande en de twee omarmden elkaar tijdens de ceremonie.

Om de Vieil Armand, of Hartmannswillerkopf in het Duits, werd tijdens de oorlog hevig gevochten. De top van de berg in de Elzas bood uitzicht op de vallei van de Rijn en werd gezien als van groot strategisch belang.’
Nu wil het geval dat maandblad ‘Die Drei’ zijn zomeruitgave van juli-augustus voor een flink deel aan deze herinnering gewijd heeft. Een gedeelte valt ook gratis te lezen, waarvan ik hierbij dankbaar gebruik maak. Zo schrijft redacteur Stephan Stockmar in zijn redactionele inleiding, ‘Reinigung durch Krieg?’, het volgende:
‘Die Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges waren voll innerer Dramatik. Unter vielen jungen Intellektuellen und Künstlern herrschte Aufbruchstimmung; sie sahen den Anfang eines neuen, geistigeren Zeitalters gekommen. Dagegen wirkten stark tradierende Kräfte, die an den Verhältnissen des ausgehenden 19. Jahrhunderts festhalten wollten. Das führte zu teils heftigen Auseinandersetzungen, die auch weite Teile des Bürgertums ergriffen. Die Spannungen und Gegensätzlichkeiten drängten wie zu einer Entscheidung. Viele Kunstwerke dieser Jahre lassen sich in diesem Sinne als Seismogramme für die seelischen Erschütterungen lesen.

In dieser Situation sahen viele Kulturschaffende in dem im Sommer 1914 ausbrechenden Krieg auch eine Chance für einen echten Neubeginn. Mittendrin stand der 34-jährige Maler Franz Marc, der mit Kandinsky zusammen das Zentrum der Künstlergruppe des Blauen Reiters bildete und viele Kontakte zu weiteren aufbrechenden Künstlern auch in anderen Ländern pflegte. Er trat gleich am 6. August als Freiwilliger zum Kriegsdienst an, allerdings nicht, um gegen etwas zu kämpfen. In seinem im Oktober entstandenen und am 15. Dezember 1914 in der Vossischen Zeitung gedruckten Aufsatz Im Fegefeuer des Krieges bringt er die von ihm erlebte Stimmung deutlich zum Ausdruck:[1]

» ... Wir haben in den letzten Jahren vieles in der Kunst und im Leben für morsch und abgetan erklärt und auf neue Dinge gewiesen. Niemand wollte sie.
Wir wussten nicht, dass so rasend schnell der große Krieg kommen würde, der über alle Worte weg selbst das Morsche zerbricht, das Faulende ausstößt und das Kommende zur Gegenwart macht. [...]
Das Volk ahnte, dass es erst durch den großen Krieg gehen musste, um sich ein neues Leben und neue Ideale zu formen. Es behielt recht mit seinem Unwillen, in elfter Stunde neue Kunstideen aufzunehmen. Man sät nicht feinen Samen, wenn ein Sturm am Himmel steht.
[...] Was gestern galt, ist heute verpasst und abgetan. Nur die guten Dinge bleiben, die echten, inhaltsschweren, wahren; sie gehen geläutert und gestählt durch das Fegefeuer des Krieges.«

Allerdings sah er auch klar die große Gefahr, die mit diesem Krieg verbunden war: »Soll der Krieg uns das bringen, was wir ersehnen und das in einem Verhältnis zu unseren Opfern steht – der Atem stockt vor dieser Riesengleichung – wird sie aufgehen? –, so müssen wir Deutschen nichts leidenschaftlicher meiden als die Enge des Herzens und des nationalen Wollens. Sie verdürbe uns alles. ... Der kommende Typ des Europäers wird der deutsche Typ sein; aber zuvor muss der Deutsche ein guter Europäer werden. Das ist er heute nicht immer und überall.« – Für Marc selbst galt: »Kaum war ein großer Krieg weniger Rassenkrieg als dieser.« Doch schon zu Ostern 1915 schrieb er an seine Frau, »dass der Krieg jetzt doch nichts anderes ist als die bösen Zeiten vor dem Kriege; was man vorher in der Gesinnung beging, begeht man jetzt mit Taten ...«.[2] – Am 4. März ist Franz Marc bei Verdun gefallen.

Liegt vielleicht gerade im Überhandnehmen der »Enge des Herzens und des nationalen Wollens« die eigentliche »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts? Wie Markus Osterrieder in seinem (in diesem Heft besprochenen) Opus magnum zum Ersten Weltkrieg herausarbeitet, hoffte auch Rudolf Steiner anfangs noch auf eine Besinnung der Mittelmächte, die einen Sieg rechtfertigen würden – bis diese spätestens ab 1916 für ihn ihre innere Daseinsberechtigung verloren hatten.

Für Marc wie für Steiner machte die Hoffnung, dass die infolge des Attentates von Sarajevo am 28. Juni 1914 eingetretene Katastrophe des Krieges wenigstens zu einem reinigenden »Fegefeuer« werden könnte, nur so lange Sinn, als die Führenden selbst sich ringend einem inneren Reinigungsprozess gegenüber offen hielten. Tatsächlich ging es dann aber vor allem um »ethnische Säuberungen« und andere Machtinteressen.

Kein Krieg ist zu rechtfertigen, zu welchem Zweck er auch geführt wird. Nicht nur Eroberungs- oder Säuberungskriege gehen immer auf Kosten anderer, auch solche, die um (vermeintlich) geistige Missionen oder zur (vorgeblichen) Reinhaltung des Glaubens geführt werden. Dazu kommt, dass spätestens seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts nahezu jede Art von Konflikt von geopolitischen und ökonomischen Interessen gnadenlos instrumentalisiert wird. So hat auch Huntingtons »Clash of Civilizations« wenig mit einer geistigen Auseinandersetzung zu tun, wie sie Franz Marc und anderen vorschwebte, sondern scheint nur noch Mittel zum Zweck zu sein.

Viele Werke, die nun anlässlich des hundertjährigen Kriegsgedenkens erschienen sind (drei davon werden in diesem Heft gewürdigt), machen deutlich, dass die meisten heutigen Krisenherde und Bruchlinien (von Nordafrika über den Nahen und Mittleren Osten bis hin zum Balkan und der Ukraine) bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts veranlagt wurden. So gesehen stecken wir auch noch nach 100 Jahren mitten in der Urkatastrophe.

Im Zuge dieser ganz irdisch orientierten Auseinandersetzungen hat auch die Anthroposophie als dezidiert kosmopolitisch ausgerichtete geistige Strömung punktuell ihre Unschuld verloren (vgl. z.B. die Besprechung der von Ansgar Martins herausgegebenen und kommentierten Erinnerungen von Hans Büchenbacher). Dabei geht es nicht nur um Taktierereien während der NS-Zeit mit dem Ziel, für die eigene gute Sache unbehelligt weiterarbeiten zu können. Manche vorstellungshafte Fixierung auf eine »Mission Mitteleuropas« bindet diesen Begriff bis heute – auch nach dem zweiten großen Versagen der Mitte – immer wieder an räumliche und volksmäßige Gegebenheiten und gibt ihn in pauschalen Urteilsbildungen über die anderen – Angloamerikaner, Russen, Buddhisten, Muslime usw. – nicht wirklich frei ins Allgemeinmenschliche. Vielleicht sollte in Zukunft gerade das geistige Mitteleuropa mehr auf das schauen, was ihm von Osten wie von Westen als fehlende Qualitäten entgegenkommt, anstatt sich in immer wieder neuen Beschwörungen der Mitte zu verlieren.

Ein entsprechendes Selbstverhältnis fordert der Bosnische Schriftsteller Dzevad Karahasan ein, wie ihn Joachim von Königslöw in seinem Artikel über Mitteleuropa und die Balkanländer abschließend zitiert:[3]

»Wenn ich ›Mitteleuropa‹ sage, meine ich auch eine ausgesprochen humorige Beziehung zu sich selbst und der Welt, eine Beziehung, die eine Distanz von sich selbst schafft und damit Tolerierung und Respektierung des anderen ermöglicht.«

[1] Franz Marc: Im Fegefeuer des Krieges, in: ders.: Schriften, hrsg. von Klaus Lankheit, Köln 1978 (auch im Internet verfügbar: www.zeno.org/Kunst/M/Marc,+Franz/Schriften/Aus+der+Kriegszeit/31.+Im+Fegefeuer+des+Krieges).

[2] 6.4.1915; Briefe aus dem Feld; www.zeno.org/Kunst/M/Marc,+Franz/Briefe/Briefe+an+die+Frau+und+die+Mutter+1914-1916/166.

[3] Dzevad Karahasan, Kapitel »Hotel Europa« in: Tagebuch der Aussiedlung, Graz 1993, S. 91f.’
‘Kaum ein seriöses Geschichtswerk hat in den letzten Jahren auf dem deutschen Buchmarkt so viel Aufsehen erregt wie die umfangreiche Studie des australischen Historikers Christopher Clark, Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine’s College im englischen Cambridge, zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Die Schlafwandler.* 13 Auflagen bisher, über 200.000 verkaufte Exemplare, wobei die deutsche Übersetzung noch um einiges erfolgreicher ist als das englische Original. Dies hat sicher mit dem Umstand zu tun, dass Clark aufzuzeigen bemüht ist, wie in den Ausbruch des Krieges verschiedene Seiten verwickelt waren, die nicht allein in Berlin zu verorten sind. Damit bricht Clark mit der seit den 1960er Jahren zumindest in der deutschen Wissenschaftsszene weit verbreiteten These von der Haupt-, wenn nicht sogar Alleinverantwortung der deutschen Reichsführung am Ersten Weltkrieg. Es war vor allem der Hamburger Historiker Fritz Fischer, der in seinen Büchern Griff nach der Weltmacht und Krieg der Illusionen die Entwicklungen herausarbeitete, die seiner Auffassung nach die deutsche Verantwortung klar unter Beweis stellten. In einem Interview mit der Zeit erläuterte Clark, was ihn zu seiner »Revision« der vorherrschenden Lehrmeinung führte: »Und noch heute haben die Studenten, die zu uns nach Cambridge kommen, ein sehr klares Bild davon, wie der Erste Weltkrieg herbeigeführt worden ist: nämlich von den Deutschen. Darum muss man ein bisschen die Betonung ändern.«[1]

Clark, ein Spezialist für deutsche und speziell preußische Geschichte mit ausgezeichneten Deutschkenntnissen, vertrat in vergangenen Jahren bereits eine Gegenposition in der Beurteilung von Kaiser Wilhelm II. zu der äußerst negativen Darstellung, die der anglo-deutsche Historiker John Röhl veröffentlicht hatte.[2] Für Röhl war Wilhelm eine entscheidende Schlüsselfigur auf dem fatalen Weg Deutschlands von Bismarck zu Hitler. Clark kritisierte diesen Versuch seines Kollegen, den letzten deutschen Kaiser zu dämonisieren. Clark verortete das Problem der Vorkriegspolitik des wilhelminischen Deutschland weniger in dem angeblichen »autokratischen Willen« des äußerst launenhaften Kaisers als vielmehr »in dem chronischen Versagen der Führung«, wobei er damit dem Urteil Rudolf Steiners über die deutsche Reichsführung aus den Jahren 1918/19 sehr nahekommt, obwohl Steiner andererseits über die Persönlichkeit des Kaisers ein eher vernichtendes Urteil traf.

In den Schlafwandlern versucht Clark nicht nur Kriegsursachen nach Kategorien geordnet (Imperialismus, Nationalismus, Rüstung etc.) herauszuarbeiten, sondern vor allem auch das komplexe Netz von Interaktionen der am Geschehen Beteiligten. Dieser Ansatz führt zu der sehr begrüßenswerten Methodik, vor allem auch Menschen, ihre treibenden Motive, Beweggründe und Charaktere, zu betrachten. Die engere Frage nach der »Schuld am Krieg« spielt dabei eine untergeordnete Rolle, weil in Clarks Darstellung deutlich wird, dass im komplexen historischen Prozess diese »Schuld« ursächlich nicht auf einen einzigen Sündenbock abgewälzt werden kann. Von der These der deutschen Alleinschuld, wie sie in Versailles 1919 im Artikel 231 des Friedensvertrags formuliert wurde, hat sich die internationale historische Forschung ohnehin seit vielen Jahren in weiten Teilen distanziert. Clark spricht seinerseits von der fatalen Juli-Krise 1914 als einer »Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur«, »multipolar und wahrhaft interaktiv« (S. 717). Allerdings führt seine Vorgehensweise auch dazu, generell anzuzweifeln, ob überhaupt konkrete Persönlichkeiten wie »Bösewichte mit Samtjackett in James-Bond-Filmen« einen Krieg wollten und auch bewusst darauf zusteuerten. Dies sei zwar »logisch nicht ausgeschlossen«, so Clark, aber durch die vorliegenden Quellen nicht zu erhärten.

In dieser Sichtweise liegt eine wesentliche Schwäche von Clarks Vorgehen. Denn er beschränkt sich hauptsächlich auf die klassische Diplomatiegeschichte im Zeitraum von etwa 1870 bis zum Sommer 1914: Bündnisse, Allianzen, Verträge, politische Krisen und strategische Erwägungen werden ausführlich beschrieben, aber diese »klassische« historische Vorgehensweise lässt viele Entwicklungen weltanschaulicher, politischer und wirtschaftlicher Natur außer acht, die nicht nur zum Kriegsausbruch beitrugen, sondern in denen auch langfristige Intentionen von Beteiligten deutlich zum Tragen kamen. »Schlafwandler« seien die poltischen Protagonisten vom Juli 1914 für Clark vor allem deshalb gewesen, weil sie »blind ... für die Realität der Gräuel« gewesen wären, die der Krieg hervorrufen sollte (S. 718). Zwar hätte es in allen Regierungen Kriegstreiber gegeben, doch Clark geht auch davon aus, dass bei allen beteiligten Mächten bis in die Julikrise die subjektive Auffassung vorherrschte: Man selbst sei friedliebend, doch handele man unter von anderen Mächten ausgeübten Zwängen, da es diese seien, welche auf einen Krieg zustrebten. Doch war dem wirklich so? Waren nicht doch einige Protagonisten bereits vor dem Krieg von der Vision einer Zukunft erfüllt, für die man im Kalkül durchaus bereit war, auch so viele Opfer in Kauf zu nehmen?

Anders als viele Gesamtdarstellungen über den Ausbruch des Weltkriegs widmet Clark der Rolle der serbischen Politik am Vorabend des Konflikts viel Aufmerksamkeit. Im ersten Teil seines Buchs schildert Clark die lokalen Ereignisse und Konstellationen auf dem Balkan. Seine Darstellung, die den serbischen Anteil am Kriegsausbruch hervorhebt, stieß im heutigen Serbien auf sehr scharfe Kritik, als ein gegen Serbien gerichtetes bösartiges Projekt, ja sie wurde durch den amtierenden serbischen Präsidenten Tomislav Nikolić als ein »neue[r] Versuch« bezeichnet, »Serbien unberechtigt und ohne Grund zum von vornherein Schuldigen zu erklären, der wiederholt in der Geschichte Unglücke im Weltmaßstab hervorgerufen hat«. Ferner wurde ihm der Vorwurf gemacht, neue serbische Literatur nicht ausgewertet zu haben.[3] Dies verdeutlicht in erster Linie, welche gesellschaftspolitische Brisanz die mit dem Krieg vor 100 Jahren verbundenen Fragen noch heute besitzen.

Tatsächlich fällt Clarks Urteil über die serbischen Protagonisten im Vergleich mit am schärfsten aus, den Politikern der damaligen Großmächte wird wesentlich mehr Verständnis entgegengebracht. Dabei geht Clark (wiewohl auch seine serbischen Kritiker) so gut wie gar nicht auf die internationalen Vernetzungen der serbischen Geheimgesellschaft »Vereinigung oder Tod« (»Schwarze Hand«) und der jugoslawischen Jugendorganisation »Junges Bosnien« ein, aus deren Reihen die Attentäter von Franz Ferdinand stammten. Gerade diese Vernetzungen zeigen, dass nicht so sehr Serbien als Staat als vielmehr die Instrumentalisierung des regionalen Nationalismus für die Ziele von Großmachtinteressen ausschlaggebend waren. Clark meint als Detail am Rande, die Mordwaffen von Sarajevo stammten aus serbischen Beständen; er übersieht, dass seit 1974 bekannt ist, dass sie aus Belgien geliefert wurden. Im Übrigen korrigierte Clark seine ursprüngliche Bezeichnung »terrorists« für Gavrilo Princip und seine Mitkämpfer für die deutsche Übersetzung in »Attentäter«. Es sorgte in Serbien für besondere Empörung, dass Gavrilo Princip von Clark mit Osama bin Laden verglichen wurde, der 28. Juni 1914 mit dem 11. September 2001.

Nachsicht gegenüber der deutschen Politik

Der zweite Teil der Schlafwandler widmet sich der Innen-, Außen-, Sicherheits- und Bündnispolitik der europäischen Großmächte von 1887 bis 1914. Hier zeichnet Clark u.a. Skizzen der politisch Verantwortlichen: Monarchen, Regierungschefs, Außenminister, Botschafter, Militärs, aber auch die Massenpresse. Kritisch fällt das Urteil gegenüber dem britischen Außenminister Edward Grey aus, Clark zeigt seine »Bereitschaft, konspirative Methoden einzusetzen« (S. 268) sowie den wachsenden Einfluss der antideutsch eingestellten Grey-Gruppe unter den leitenden Beamten des Foreign Office. Und doch bleiben seine Charakterisierungen und Analysen eher an der Oberfläche. Ausgespart bleiben die gerade im britischen Fall äußerst wichtigen Lobby- und Dinnerclub-Gruppen: über Coefficients, Round Table oder die Pilgrim Society wird man in seinem Buch nichts finden. Der so bedeutende Politiker Arthur Balfour wird nur einmal kurz gestreift; der enorme Einfluss, den Gestalten wie Rosebery, Rhodes, Milner, Mackinder, Lionel Curtis mit ihren weitreichenden Projekten über die imperialistische Zukunft des British Empire ausübten, wird gar nicht erwähnt. Gerade diese Auslassung führt auch dazu, dass die Vorkriegspolitik der USA keine Erwähnung findet – wie in den meisten Darstellungen zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs. Aber gerade die britische Politik wird nur verständlich, wenn man die unter dem Gesichtspunkt der »großen Annäherung« mit der neuen imperialistischen Macht der USA unter Theodor Roosevelt betrachtet.[4]

Der abschließende dritte Teil behandelt die Ereignisse der Julikrise 1914 und den eigentlichen Kriegsausbruch. Clark zeigt auf, dass die britische Entscheidung – nach dem doppelbödigen Nebel, den Außenminister Grey in einem Gespräch mit dem deutschen Gesandten Lichnowsky am Nachmittag des 1. August verbreitet hatte und der in Berlin größte Verwirrung und die Hoffnung auf britische Neutralität wachrief – einer militärischen Intervention an der Seite Entente für die britische Außenpolitik zwei Probleme mit imperialen Rivalen auf einen Schlag löste: die Zügelung und Besänftigung Russlands und die Eindämmung Deutschlands.

Was die deutsche Seite betrifft, schreibt Clark zwar von fatalen Fehlentscheidungen der Reichsführung, begegnet jedoch der imperialen Politik des Deutschen Reichs mit Nachsicht. In London, Paris und St. Petersburg habe man Berlin und den deutschen Wirtschaftsambitionen den legitimen Bewegungsspielraum nicht zugestehen wollen. Welche grundlegenden gesellschaftlichen Fehlentwicklungen dem Deutschen Reich zugrunde lagen, die auch zur Herbeiführung des Kriegs beitrugen, darüber wird man in Clarks Buch nichts erfahren.

Und obwohl Rudolf Steiners Charakterisierungen aus den Jahren 1918 bis 1921 über die internationale Situation vor Kriegsausbruch in vielen Punkten den Ergebnissen Clarks ähneln, obwohl Steiner die deutsche Bevölkerung vor der »Alleinschuld«-Stigmatisierung 1919 vehement in Schutz nahm, so klang doch Rudolf Steiner im April 1919 eher wie ein früher Fritz Fischer, wenn er etwa die deutsche Fehlentwicklung der Vorkriegsjahre als ein strukturelles gesellschaftliches Problem mit den Sätzen anprangerte: »Das ist es, was Mitteleuropa seinen Untergang gebracht hat: die Ehe zwischen dem Industrialismus und dem Territorialfürstentum, den politischen Verwaltern Mitteleuropas. ... das für dieses Mitteleuropa grausam-fürchterliche Zusammenwirken des alten verkommenen Nibelungenadels mit dem heraufkommenden, seine welthistorische Stellung durch keine inneren seelischen Ansprüche rechtfertigenden industriellen Menschentum Mitteleuropas. Die Typen, die sich in Mitteleuropa gezeigt haben aus diesen beiderlei Kreisen, das waren die Menschen, die in unendlichem Hochmut aus einer eingebildeten Praxis heraus durch Jahre hindurch alles das niedergetreten haben, was irgendwie hat hindurchwirken wollen auf ein Wiederbemerken dessen, was mit Walter von der Vogelweide zu singen begonnen hat und was im Goetheanismus seinen Abschluss gefunden hat. Dass die äußere Welt sich das Schlagwort des ›Militarismus‹ erfunden hat, um diese viel tiefere Erscheinung unzutreffend-zutreffend, zutreffend-unzutreffend zu bezeichnen, das ist ja nicht weiter zu verwundern ...«.[5]

Bei alledem hat das Buch von Christopher Clark große Verdienste. Es ist ausgezeichnet geschrieben und untersucht unter Verwendung sehr umfangreichen, teils vernachlässigten Quellenmaterials die Politik und Diplomatie aller am Kriegsausbruch beteiligten europäischen Großmächte. Die heftige Diskussion, die seit seinem Erscheinen über den Ursprung des Ersten Weltkriegs in mehreren europäischen Ländern eingesetzt hat, zeigt ebenso wie die aktuelle schwere internationale Krise in der Ukraine-Frage, wie notwendig Clarks Veröffentlichung über die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts gerade für uns Zeitgenossen ist.

* Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013, 896 Seiten, 39,99 EUR.

[1] Erster Weltkrieg: Der Griff nach der Weltmacht. Ein Gespräch mit Christopher Clark und dem polnischen Publizisten Adam Krzemiński über das Europa von 1914, in: Die Zeit 38/2013 (24. September 2013).

[2] Christopher Clark: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, 2. Aufl. München 2009; John C.G. Röhl: Wilhelm II. Bd. I: Die Jugend des Kaisers 1859-1888. 2., durchges. Aufl., München 1993; John C.G. Röhl: Wilhelm II. Bd. II: Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888-1900, München 2001.

[3] Vgl. Marie-Janine Calic: Kriegstreiber Serbien? Die Südslawen und der Erste Weltkrieg: eine Richtigstellung, in: Osteuropa 64:2-4 (2014), S. 43-58.

[4] Hierzu Magnus Brechtken: Scharnierzeit 1895-1907. Persönlichkeitsnetze und internationale Politik in den deutsch-britisch-amerikanischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg, Mainz 2006; Andreas Rose: Zwischen Empire und Kontinent. Britische Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, München 2011. Aber auch die eigene Arbeit des Verfassers: Markus Osterrieder: Welt im Umbruch. Nationalitätenfrage, Ordnungspläne und Rudolf Steiners Haltung im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 2014.

[5] Vergangenheits- und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen (GA 190), Dornach, 12. April 1919, S. 174f.’
Meteen hierop volgt op bladzijde 54 ‘Welt im Umbruch. Zu Markus Osterrieders Studie über den Ersten Weltkrieg*’ door Wolfgang G . Vögele:
‘Nun liegt auch von anthroposophischer Seite eine umfangreiche wissenschaftliche Studie zum Ersten Weltkrieg vor, die der Historiker Markus Osterrieder, Slavist und anerkannter Osteuropa-Experte, nach 14-jährigen Recherchen erarbeitet hat. Auf 1700 Seiten beschäftigt sich dieser sowohl mit der Nationalitätenfrage in Mitteleuropa im Vorfeld des Krieges als auch mit dem Ringen um eine »neue Weltordnung«. Im Einzelnen geht es z.B. darum, was sich hinter Schlagworten wie »Imperialismus« oder »Panslavismus« verbirgt, welche Ziele die deutsch-nationale Strömung in der Habsburgermonarchie verfolgte, was die Ideen der »völkischen Kämpfer« und »Ariosophen« waren oder auch um die »ethnische Säuberung als politisches Prinzip«. Er schildert das Entstehen eines anglo-amerikanischen Establishments und zeigt auf, warum dieses später eine »Appeasementpolitik« gegenüber Hitler betrieb.

Wie konnte es überhaupt zur »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts kommen, deren Folgen bis heute nachwirken? Wer trug die Hauptverantwortung am Ausbruch des Ersten Weltkriegs? Nur eine Minderheit teilt heute noch das in den 1960er Jahren von Fritz Fischer formulierte Paradigma der damaligen bundesdeutschen Historikergeneration, demzufolge das Deutsche Reich der Haupt-, wenn nicht der Alleinverantwortliche für den Kriegsausbruch gewesen sei. Wie viele Quellen bestätigen, kann bei der deutschen Staatsführung nicht die Rede sein von einem gründlich geplanten »Masterplan« zur Erlangung der Welthegemonie, wie Mombauer u. andere behaupten, sondern nur von einem Chaos. Kein ernstzunehmender Historiker vertrete heute noch die Alleinschuldthese, stellte der Kieler Historiker Michael Salewski schon 2004 fest (S. 123).

In der internationalen historischen Debatte der vergangenen zwanzig Jahre fanden umfangreiche Neuinterpretationen des Weltkriegs statt (zuletzt etwa von Christopher Clark),[1] die zeigen, dass die Verantwortlichkeit für den Ausbruch des Krieges nicht ohne starke Vereinfachungen einem einzigen Land zugeschoben werden kann. John Röhls These von der gezielten Kriegsplanung der deutschen Reichsführung nennt Clark »a minority view« (S. 123). Was Clark als die »Schlafwandler« beschreibe, habe, so Osterrieder, Steiner als »Bewusstseinstrübung führender Persönlichkeiten« charakterisiert: Auch dieses Symptom sei Teil des Ursachengeflechts, das in den Weltbrand führte (S. 10).

»Im okkulten Untergrund«

Zu den von der historischen Forschung lange vernachlässigten Themenbereichen, die angeblich »nicht überprüfbar« sind, gehört die geschichtliche Bedeutung von okkultistischen und ›esoterischen‹ Strömungen. In den letzten zwanzig Jahren sind allerdings bedeutende Untersuchungen, etwa zur politischen Rolle der Freimauer und Rosenkreuzer erschienen, was eine Neubewertung historischer Prozesse ermöglicht. So bringt auch Osterrieder in dem Kapitel »Im okkulten Untergrund« Beispiele für das Wirken geheimer Gruppen hinter den Kulissen der Weltpolitik. Das hat nichts mit trivialer Enthüllungsliteratur zu tun, die monokausal bestimmte Orden, Logen oder Geheimgesellschaften für Kriege, Revolutionen und Verbrechen aller Art verantwortlich macht.

Ohne den Einfluss dieser vielschichtigen Untergrundszene überzubewerten, demonstriert er anhand von Tagebüchern, Briefen, Konferenzprotokollen und internen Polizeiberichten, wie sehr politische Entscheidungsträger und Diplomaten mit »okkulten Gruppen« vernetzt waren. So weist er etwa auf Blavatskys oder Crowleys Agententätigkeit für das britische Empire hin und belegt das Bemühen des bekannten französischen Okkultisten »Papus« (Dr. Encausse), das Wirken Rudolf Steiners zu behindern. Dabei überlässt er es dem Leser, aus den zitierten Dokumenten eigene Schlüsse zu ziehen.

Wer sich für die gesellschaftspolitischen Äußerungen Steiners und dessen politische Haltung während und nach dem Weltkrieg oder für seinen Einsatz für die »soziale Dreigliederung« interessiert, ist mit Osterrieders Buch gut bedient. Eindrucksvoll auch die Schilderung von Steiners zeitweiligem Konflikt mit Edouard Schuré, seiner Freundschaft mit Hellmuth von Moltke oder seiner bis heute umstrittenen Unterstützung des »Enthüllungsautors« Karl Heise. Steiners Positionen zu damals aktuellen Themen (Wilsons 14 Punkte, Völkerbund, Oberschlesienfrage, Vertrag von Versailles, Kriegsschuld) werden durch die jeweiligen historischen Kontexte erhellt. Das gilt ebenso für Themen wie »Michael: Schutzpatron der Deutschen oder Zeitgeist der Menschheit?«, »Deutschtum« oder die fehlgeschlagene Ermordung Steiners durch Rechtsradikale.

Kein deutscher Sonderweg

Osterrieders Studie greift weit über die vier Jahre des Ersten Weltkriegs hinaus: Sie sieht seine Ursachen im 19. Jahrhundert, vor allem im Nationalitätenproblem des Habsburgischen Vielvölkerstaats (das gerade auch Rudolf Steiner in jungen Jahren hautnah miterlebte) oder im Imperialismus der Großmächte. Als Osteuropa-Kenner erschließt Osterrieder zahlreiche bisher vernachlässigte Quellen aus Russland, Polen, Ungarn und anderen osteuropäischen Staaten. Er beschreibt aber auch die Folgen dieser Weltkatastrophe, die sich deutlich im Hitlerregime, im Zweiten Weltkrieg und im sogenannten Kalten Krieg nachweisen lassen. Das Ringen um eine »neue Weltordung«, so macht Osterrieder deutlich, geht auch im 21. Jahrhundert unvermindert weiter.

Eine kleine, aber einflussreiche Strömung von Kulturhistorikern im Gefolge des Politologen und katholischen Fundamentalisten Eric Voegelin und seiner Theorie von der »Politgnosis«[2] sieht freilich eine Spur des »Bösen«, die sich von der deutschen Romantik über Richard Wagner und Rudolf Steiner bis zu Hitler ziehe (so etwa Harald Strohm). Demnach führten »gnostische Ideologien« zwangsläufig zu totalitären politischen Systemen. Dass solche Simplifizierungen der historischen Wahrheit nicht gerecht werden, beginnt man heute allmählich einzusehen.

Damit verwandt ist der Mythos vom »deutschen Sonderweg«, der seit Theodor W. Adorno stereotyp der deutschen Kulturentwicklung angelastet wurde. Auch diese These weist Osterrieder mehrfach zurück. So sei beispielsweise die Idee einer kontinentalen Zollunion unter deutscher Vorherrschaft kein Ausdruck des deutschen Sonderwegs gewesen, denn schon 1905 hatten die Vertreter der »englischsprechenden Idee« erkannt, dass in der Zukunft größere Wirtschaftszonen entstehen müssten (S. 1041). Im Anschluss an den Historiker Peter Hoeres, der die Rolle der deutschen und britischen Intellektuellen im Weltkrieg untersuchte, meint Osterrieder, von einer grundlegenden nationalen Differenz beider Weltkriegsphilosophien könne keine Rede sein – auch das ein Argument gegen die Sonderwegstheorie: »Nicht ein Sonderweg, nicht spezifisch nationale Philosophien sind im Ersten Weltkrieg auszumachen, sondern ein nationenübergreifenes Ringen um die Antwort auf die sozialen und politischen Fragen der Moderne.« Und: »Die Texte der deutschen Weltkriegsphilosophie werden in ihrem Antwortcharakter nur verständlich, wenn die britischen Anschuldigungen präsent sind« (S. 1049f.).

Rudolf Steiners Haltung im Ersten Weltkrieg

Wie war Rudolf Steiners Haltung im Ersten Weltkrieg? Nach Ansicht einiger Historiker sei er ein strammer »Deutschnationaler« gewesen, der den Weltkrieg verherrlicht und Deutschland als Opfer einer internationalen Einkreisung bezeichnet habe. Nach dem Krieg habe er »rechte« Ansichten vertreten, den Versailler Vertrag und die westlichen Demokratien abgelehnt, so der Steiner-Biograf Helmut Zander.[3] Dessen Unterstellung, Steiner habe den deutschen Überfall auf das neutrale Belgien gerechtfertigt, weist Osterrieder als Verbiegung von Steiners Standpunkt zurück (S. 789) und belegt auf immerhin 24 Seiten, dass die politische Sachlage wesentlich komplizierter war. Insgesamt geht es Osterrieder nicht um eine Aufarbeitung von Steiners Biografie, sondern um eine Schilderung der thematischen Zusammenhänge, auf die Steiner während des Krieges Bezug nahm, was ihn bewog, bestimmte Aussagen zu machen oder Initiativen zu ergreifen.

Manche Äußerungen Rudolf Steiners zum Weltkrieg klingen, so gibt Osterrieder zu, für heutige Ohren – zumal nach den Erfahrungen mit dem Hitlerregime – oft apologetisch bis nationalistisch. Doch werde dies Steiners Haltung und Intention kaum gerecht. Wenn Steiner seit 1916 sein Urteil revidierte und den Mittelmächten Versäumnisse zuschrieb (S. 123 f.), so sei das nicht nur infolge der sich ändernden äußeren Situation geschehen, sondern auch durch sein Miterleben der Seelenerlebnisse des verstorbenen Hellmuth von Moltke (S. 1017 und 1023). Steiner sei klargeworden, dass innerhalb der Mittelmächte nicht die Menschen vorhanden waren, die einen deutschen Sieg gerechtfertigt hätten. Er habe auf einen Friedensschluss im Osten gehofft, der kein Volk unterdrücke. Steiners »Memoranden« hätten eine Neuordnung Osteuropas im Sinne der Dreigliederung ermöglicht. Außenminister Kühlmann trug diese Denkschriften in den Verhandlungen von Brest-Litowsk bei sich, konnte sie aber angesichts der Forderungen der Militärs (Ludendorff) nicht zur Sprache bringen. So kam ein »Gewaltfrieden« zustande, den Steiner als geistige und politische Katastrophe bewertete. Dieser Vertrag spiegelte alle Kolonialgelüste der Obersten Heeresleitung und stellte einen Präzedenzfall für die Verträge von Versailles und Saint-Germain dar (S. 1408).

Ein heikler Punkt bleibt Steiners Beziehung zu dem Verschwörungstheoretiker Karl Heise, zu dessen Enthüllungsbuch er ein Vorwort verfasste (S. 1286 ff.). Die diversen alliierten Freimaurerkreise seien von erheblichem Einfluss auf die Planungen während des Krieges gewesen, was wiederum antifreimaurerische Reflexe auslöste. So gab der Jesuit Hermann Gruber, der auch vom Vatikan und seinem Orden zu diesem Thema konsultiert wurde, eine ganze Reihe antimaurerischer Schriften heraus. Steiner verwies auf einen Artikel Grubers in den Stimmen der Zeit (1918) und meinte, der Jesuitismus sei ebenfalls zu bekämpfen. Daher förderte er Heises Buchprojekt. Doch, wie Osterrieder zugibt, ist Heises Schrift »zweifelhaft« (1292) und »ein Pamphlet« (1291). Steiners Vorwort dagegen sei differenziert abgefasst. Heises Schrift habe aber letztlich nicht Steiners Absichten entsprochen.

Der vielkritisierte Satz Steiners »Wir wissen als Anthroposophen: Im deutschen Geiste ruht Europas Ich« ist nach Osterrieder eine »heute mehr als fragwürdig erscheinende Formulierung«. Doch müsse beachtet werden, dass Steiner unter dem deutschen Geist eine konkrete übersinnliche Wesenheit verstehe, zu dem individuell eine Verbindung gesucht werden solle. Zander habe dies so missdeutet, als ob Steiner damit ein Kollektiv gemeint hätte, auf das der deutsche Geist einwirken solle (S. 1073). Die »Weltmission« des deutschen Geistes bestehe laut Steiner nicht in äußeren Eroberungen, sondern in einer der »europäischen Mitte« gemäßen Spiritualität (S. 1072 f.). Scharf arbeitet Osterrieder auch den Gegensatz der NS-Triade »Volk – Führer – Vollstreckung des Führerwillens« zur anthroposophischen Triade »Erkenntnis des Einzelnen – Wille des Einzelnen – Praktischer Weg des Einzelnen« heraus (S. 1075).

Wer Steiners Aussage, der deutsche Volksgeist stehe mit dem Zeitgeist Michael »im innigen Bunde« (19.1.1915 Berlin, GA 157, S. 106) als Beleg für Steiners vermeintlich deutsch-nationalen Chauvinismus deute, der nehme den eigentlichen Inhalt des Gesagten nicht zur Kenntnis (S. 1106). Osterrieder lässt diesen Vorwurf nicht als mögliche historische Deutungsoption gelten, sondern bezeichnet ihn schlicht als bewusste Unwahrheit. Schon im 19. Jahrhundert sei der Erzengel Michael von den Preußen zu einem martialischen Volkshelden verzerrt und im Ersten Weltkrieg zum »Kriegsgott« reduziert worden. Doch spätestens 1913 habe Steiner – in London! – Michael als Inspirator des Kosmopolitismus, der Internationalität und der neuen Spiritualität gekennzeichnet (S. 1104 f.). Auch die übrigen Äußerungen Steiners über Michael seien diametral entgegengesetzt zu denen des Wilhelminismus.

»Der Ruf nach der versunkenen Mitte«

Mit seinem Schlusskapitel »Der Ruf nach der versunkenen Mitte« zeigt Osterrieder, dass die Fragen, die Rudolf Steiner gegen Ende seines Lebens aufwarf, noch immer von existenzieller Bedeutung für Gegenwart und Zukunft der zusammenwachsenden Menschheit sind. Steiner zufolge sei das Eintreffen neuer Weltkatastrophen, etwa ein globaler Konflikt zwischen dem Westen und Ostasien, unabwendbar, wenn nicht eine neue Form von Spiritualität in der Menschheit zum Tragen komme. Eine besondere Verantwortung dafür liege in Europa und im angloamerikanischen Westen. Wege zu einer Verständigung zwischen West und Ost habe schon der anthroposophische Kongress in Wien (Juni 1922) aufgezeigt. Vorrangig und entscheidend sei die Installation eines freien, von Staat und Wirtschaft emanzipierten Geisteslebens. Steiner hoffte, dass aus dem Geistesleben heraus eine »Verständigung über die ganze Kulturwelt der Erde« kommen werde (GA 83, S. 359). Sollte sich das nicht realisieren, so Steiner, dann werde die westliche Zivilisation untergehen »und aus den asiatischen Kulturen muss sich etwas Zukünftiges für die Menschheit ergeben« (Steiner am 2. November 1919, GA 191, S. 211 f.). 1923 sei es Steiner nicht mehr primär um die »Schuld« am Weltkrieg gegangen, sondern um neue Fragen. Er sah einen neuen, noch verheerenderen Weltkrieg auf die Menschheit zukommen. Das Hitlerregime und der Zweite Weltkrieg sei, so Osterrieder, ein Versagen der Mitte, ja eine »spirituelle Selbstzertrümmerung« gewesen.

Die Nachkriegsordnung des Kalten Krieges konnte nach Osterrieder den Ruf nach einem Geistesleben der Mitte nicht ersetzen. Viele der größten Krisen und Konflikte der Gegenwart seien noch immer zutiefst mit den Weichenstellungen verbunden, die während des Ersten Weltkriegs und in den Jahren danach erfolgt seien.

So gesehen, sollte Osterrieders Rückbesinnung auf das, was vor 100 Jahren geschah, nicht ein müßiges Lesevergnügen einiger Intellektueller bleiben, sondern Pflichtlektüre sein für jene, die als Entscheidungsträger im öffentlichen Raum (in Politik, Bildungswesen und in den Medien) tätig sind. Gerade weil sein Buch etwas bietet, was in historischen Darstellungen fast immer zu kurz kommt: die spirituellen Aspekte und die reale Wirksamkeit der Gedanken. Dieses Werk zeigt vorbildlich, was eine durch Anthroposophie inspirierte, symptomatologisch orientierte Geschichtswissenschaft zu leisten vermag und weckt den Wunsch, weitere Werke dieses Verfassers zu lesen. Das Buch vermittelt in spannender Weise wissenschaftlich fundiertes Hintergrundwissen und wirkt in einer Zeit medialer Oberflächlichkeit und Desinformation im besten Sinne aufklärend. Und was Steiner betrifft: Auch wer seiner Geschichtsdeutung nicht in allen Punkten folgen mag, gewinnt nach der Lektüre den Eindruck, dass er als nüchterner Zeitbetrachter mit seinen Urteilen in den meisten Fällen »richtig lag«.

Osterrieders profunde Studie ist ein Musterbeispiel für anthroposophisch erweiterte Geschichtswissenschaft. Dem Fachhistoriker liefert sie interessante Denkanstöße und öffnet ihm bisher weitgehend unbekannte Quellen. Obwohl der Autor bescheiden anmerkt, nicht alle Aspekte zum Thema abgedeckt zu haben, dürfte das Werk allein wegen seine Materialfülle schon jetzt als Standardwerk gelten, das auf längere Sicht die historische Diskussion zum Thema »Erster Weltkrieg« mitbestimmen wird. Das Werk enthält über das Erwähnte hinaus Kapitel zu Themen wie »Vielvölkerraum und Heimatlosigkeit«, »Von der Humanität zur Nationalität«, »Der Völkerfrühling in der Habsburgermonarchie«, »Der Weg nach Sarajevo« und »Allianzen auf dem Weg in den Krieg«, »Das Ringen um ›Mitteleuropa‹«, »Die Revolutionierung der Nationalitäten«, »Das Jahr 1917 und der Beginn der bipolaren Weltordnung« und »Der unvollendete ›Umbruch‹«.

* Markus Osterrieder: Welt im Umbruch. Nationalitätenfrage, Ordnungspläne und Rudolf Steiners Haltung im Ersten Weltkrieg, Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus, Stuttgart 2014, 1722 Seiten, 79 EUR.
Die Zahlen in Klammern bezeichnen die Seiten in diesem Buch.

[1] Christopher Clark: The Sleepwalkers, London 2010; deutsch: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013, vgl. die Besprechung von Markus Osterrieder auf S. 51 in diesem Heft.

[2] Vgl. Albrecht Kiel: Gottesstaat und Pax Americana. Zur politischen Theologie von Carl Schmitt und Eric Voegelin, Cuxhaven und Dartford 1998, S. 3, S.95 ff.

[3] Helmut Zander kennzeichnet in Rudolf Steiner. Die Biografie (München 2011) Steiners Verhalten im Weltkrieg als deutschnational (S. 329 ff.). Steiner habe die deutsche Kriegspolitik »massiv« gerechtfertigt (S. 345), Deutschland von jeder Schuld freigesprochen, obwohl dieses »vielleicht sogar entscheidenden Anteil an dieser Jahrhundertkatastrophe hatte« (S. 346). Mit einer »esoterischen Kriegsmetaphysik« (S. 335) habe Steiner seinen deutschen Nationalismus »okkult verschleiert« (S. 343).

Eine Liste von Markus Osterrieders Veröffentlichungen bietet seine Webseite: www.celtoslavica.de
Van de Eerste Wereldoorlog naar de Tweede Wereldoorlog, met een boek dat hier ook al vaak ter sprake is gekomen. Bij de recensies, beginnend op bladzijde 84, staat meteen als eerste ‘Anthroposophen in der Nazizeit’ door Frank Hörtreiter besproken:
‘Ansgar Martins: Hans Büchenbacher: Erinnerungen. Zugleich eine Studie zur Geschichte der Anthroposophie im Nationalsozialismus, Info3-Verlag, Frankfurt 2014, 483 Seiten, 26 EUR.

Der Verlag verdient Dank, dass endlich die zeitgeschichtlich wichtigen Büchenbacher-Erinnerungen öffentlich erhältlich sind. Bisher wurden sie nur bruchstückhaft oder als Typoskript weitergereicht. Dieser leidgeprägte Bericht macht nur einen kleinen Teil des Buches aus (ca. 80 von 483 Seiten).

Hans Büchenbacher war Offizier im Ersten Weltkrieg, Musiker und Philosoph. Rudolf Steiner berief ihn als anthroposophischen Vortragsredner, und ihm war es in München 1922 zu verdanken, dass Steiner bei dem legendären Angriff in München vor rechtsradikalen Schlägern geschützt und heil aus der Stadt gebracht wurde. Es war auf seine Initiative, dass angesichts der Konflikte zwischen Jung und Alt 1923 die »Freie Anthroposophische Gesellschaft« gegründet wurde. Von 1931 bis 1934 Vorstandsmitglied der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, bemerkte er erschreckt, dass ein großer Teil der deutschen Anthroposophen sich vom Nationalsozialismus angezogen fühlte. Er gewann den Eindruck, dass man ihn – einen Weltkriegsoffizier und »Halbjuden« – gern losgeworden wäre. Und so gab er seine Ämter innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland auf. Auch in Dornach musste er ein positives Urteil über den Nationalsozialismus bei Günther Wachsmuth und Marie Steiner vorfinden. Letztere war nach Rudolf Steiners Tod stark von Roman Boos’ Emotionen geprägt. Büchenbacher wurde ausgegrenzt.

Nach dem Krieg versuchten Dornacher Anthroposophen, ihn wieder in leitende Positionen zu holen. Das wirkte für Büchenbacher fast wie ein Preisangebot für sein Stillschweigen. Als man aber merkte, dass er ohnehin über »Dornachs« zweideutige Haltung zum Nationalsozialismus nicht zu Gericht zu sitzen gedachte, wurde er nicht mehr umworben. Dennoch hat er auch nach dem Krieg im Goetheanum und anderswo die Verbindung von sauber gedachter Philosophie und anthroposophischer Esoterik in Vorträgen und Arbeitskreisen vorbildlich gepflegt.

Der erste, titelgebende Teil des Buches (schon mit sorgfältig erarbeiteten Fußnoten versehen) liegt nun also vor und sollte mit Anteilnahme gelesen werden, auch wenn Büchenbacher gelegentlich Behauptungen wiedergibt, die sich nicht erhärten lassen und zum Teil vom Herausgeber Ansgar Martins widerlegt werden, zum Teil aber nicht. Davon später.

Büchenbacher schreibt über den Jahresanfang 1934: »Ich konnte aber in dieser Zeit dann doch noch in vielen deutschen Zweigen Mitglieder [und öffentliche] Vorträge halten und dabei konstatieren, dass ungefähr 2/3 der Mitglieder mehr oder weniger positiv zum Nationalsozialismus sich orientierten.« Diese Vermutung hat leider sehr viel für sich, auch wenn viele Anthroposophen sich späterhin angesichts des drohenden Verbotes der deutschen Landesgesellschaft nun als naziverfolgt sahen.

Den Hauptteil des Buches bilden Anhänge aus der Feder des Herausgebers, mit fast unzähligen Fußnoten versehen. Sie geben einen reichhaltig differenzierten und gut gegliederten Kommentar. Der ungewöhnlich junge Verfasser richtet nicht vom hohen Ross des Spätgeborenen über die irrenden Früheren. Martins hat fast immer sauber unterschieden, was Rudolf Steiner selber gesagt hat, der ja nicht mehr im Berichtszeitraum 1933-45 gelebt hat, und was einzelne Anthroposophen gemeint haben. Auch die verschiedenen Formen eines »Deutschtum«-Begriffes und des Antisemitismus hat er meist ordentlich getrennt und enorm viel Material verarbeitet. Die fünf Anhänge umfassen eine Kurzbiografie Büchenbachers, die komplizierte Wechselwirkung von »rechter« und »linker« Anthroposophie und sozialer Dreigliederung, deren Spiegelungen innerhalb der anthroposophischen Streitigkeiten der 30er Jahre, das Lavieren vieler deutscher Anthroposophen im Dritten Reich und die schwierige Begriffsbestimmung des »Deutschtums« und des »Judentums « und die Schicksale jüdischer Anthroposophen.

Dennoch einige Einwände: Martins hat offensichtlich Teil II der Memoiren des Büchenbacher-Sohnes Hans Ludwig nicht gekannt (Hans Ludwig Büchenbacher: Karmische Fäden I+II, Raisdorf 1995). Dort wird (über die persönliche Betroffenheit hinaus) die überbordende Egozentrik des Vaters dargestellt. Ich meine, dass diese Selbstbezogenheit (auch wenn ich große Empathie für Büchenbachers Leid hege) auch die hier vorgelegten Erinnerungen und Urteile verdüstert.

Es gibt eine Reihe damaliger Urteile von Anthroposophen über »das Judentum«, die Martins mit Recht kritisiert. Auch wenn man sie Rudolf Steiner nicht generell unterschieben sollte: Martins schildert, dass Steiner zeitweise meinte (trotz seines frühen Eintretens gegen einen vernichtungslüsternen Antisemitismus, wie auch noch im Büchenbacher-Text auf S. 53 bezeugt), die Juden hätten in ihrem Gruppencharakter keine Daseinsnotwendigkeit mehr, sondern sollten kulturell aufgehen in der individualisierten Menschheit. Dies stimmt m.E. damit zusammen, dass Steiner ohnehin alle Nationalcharaktere für überwindungsbedürftig hielt.

Nebenbei: Steiner hat meines Wissens nie ein höheres Hellsehen für sich in Anspruch genommen, wenn es um Zeitfragen oder ihn selber ging; das wäre auch ethisch unerlaubt. Er sah sich hier selber noch irrtumsfähiger als sonst. Sein oft apodiktischer Stil – vor allem in den natürlich verkürzenden Vortragsnachschriften – mag darüber hinwegtäuschen, wie bescheiden und selbstkritisch Steiner sein konnte.

Martins schreibt Friedrich Rittelmeyer – vor allem in Bezug auf dessen Buch Deutschtum – einen latenten Antisemitismus und eine deutschnationale Haltung zu. Da steckt gerade bei Rittelmeyer ein Verständnisproblem. Er hat oft die (vielleicht vermeintlichen) Ideale der Andersdenkenden erst einmal positiv aufzugreifen und dann zu wandeln versucht. Das hat ihn bekanntlich in einen massiven Konflikt auch mit Steiner gebracht: Jürgen von Grone wurde als Redakteur der Wochenschrift Anthroposophie abgesetzt, weil er Rittelmeyer Raum gegeben hatte, einem Gegner (Lempp) zu entgegenkommend zu antworten. Dies Naturell brachte ihn dazu, oft gegenüber den Nazis nachgiebiger zu erscheinen, als es der Fall war.

Überhaupt scheint mir Rittelmeyers »Deutschtum«-Begriff durch Martins arg verallgemeinert zu werden. Rittelmeyer war – wie Martins richtig beschreibt – stark von Fichtes Deutschtum-Ideal durchdrungen, aber ohne dessen Militanz. Er hat ähnlich wie Goethe und Schiller in den Xenien gemeint, dass man nur deutsch sein könne, wenn man auf das Politische (und damit auch Militärische) radikal verzichtet. So verstehe ich auch die ominöse Rittelmeyer-Antwort auf die Frage eines Nationalsozialisten, warum er nicht für den Nationalsozialismus entflammt sei, dass dieser ihm »zu wenig deutsch« sei.

Deshalb war Rittelmeyer – trotz seiner verwirrend wirkenden Klischees über das »Judentum« – auch dagegen, die Juden 1938 aus der Wiener Gemeinde auszuschließen. Das war ihm so wichtig, dass er das Verbot der Christengemeinschaft dafür hinzunehmen bereit war. Reinhard Wagner, der deshalb von Wien zu einem letzten Gespräch mit dem sterbenden Rittelmeyer nach Hamburg reiste, hat das mehrfach bezeugt.

Eine Behauptung Büchenbachers (S. 55f., bei Martins, S. 212 u. 340 bekräftigt) darf aber nicht stehenbleiben: Eduard Lenz und Alfred Heidenreich haben 1936 ganz gewiss nicht die Neugründung einer Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland angestrebt, die dem Staat genehmer sei. Für eine derart gravierende Behauptung ist mir Büchenbachers Anekdote aus Prag als einzige Quelle viel zu dünn. Ich kenne Lenz’ ungewöhnlich wache, von Anfang an nazikritische Haltung aus seinen politischen Kommentaren im Priesterrundbrief. Und Heidenreichs Beteiligung wäre sowieso absurd gewesen, weil er längst in London wirkte und Deutschland nur besuchte, um bei der Abwehr eines Verbots der Christengemeinschaft zu helfen. Büchenbacher hat die Christengemeinschaft zeitlebens nicht geschätzt und möglicherweise Lenz voreingenommen gehört. (Wieso er einst gegenüber Steiner die Möglichkeit ansprach, Priester zu werden, darüber könnte ich spekulieren, aber das gehört wohl nicht hierher).

Die ehrabschneidende Unterstellung Büchenbachers (S. 70f), Herbert Hahn habe das ihm anvertraute Vermögen seines jüdischen Freundes Rosenthal nach dem Kriege nicht zurückzahlen wollen, scheint mir zu schwach auf Hörensagen begründet. Schade, dass Martins dies in seinem Kommentar S. 413 fast bestätigt. So werden aus möglicherweise haltlosen Gerüchten beim nächsten Zitat scheinbar diskutable Fragen.

Martins ist selber solch einem Vorgang aufgesessen: Helmut Zander meint, Ita Wegman sei wohl Rudolf Steiners Geliebte gewesen. Dabei stützt er sich auf keine haltbaren Quellen, wie er später auf Podien selber zugab. Martins kann aber dies als scheinbar diskutable Frage (S. 240) weiterverwenden. So werden aus Gerüchten fast Fakten.

Genug der Einwände: Ich teile Martins’ Meinung, dass die Anthroposophen sich viel zu sehr mit sich selber beschäftigt und dadurch überschätzt haben, so dass sie blind (und nicht etwa bloß ohnmächtig) waren angesichts der Nazi-Verbrechen. Sie sind da leider manchen »bürgerlichen Fluchtbewegungen« vergleichbar. Dieser Begriff, der meines Wissens zuerst in dem Fidus-Buch von Frecot/Geist/Krebs (Fidus 1868-1948, zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen, München 1972) verwandt wurde, hilft das Phänomen zu verstehen, dass sich manchmal kleine Gruppen in ihrer Nische für weltentscheidend halten und deshalb gekränkt sind, weil man sie nicht genügend beachtet. Ulrich Linse hat in seiner Studie Barfüßige Propheten – Erlöser der zwanziger Jahre (Berlin 1983) für einige dieser »Bewegungen« herausgearbeitet, dass die wesentliche Maxime lautete: »Wandle dich zuerst, wenn du die Welt wandeln willst«. Für den Einzelnen mag es lobenswert sein, zuerst vor der eigenen Tür zu fegen; dennoch: Wer steht auf gegen Verbrechen in der Gemeinschaft? Dieser Frage haben sich allzu viele Menschen damals entzogen, und davon sind viele Anthroposophen leider nicht ausgenommen. Dass die Anpassungswilligkeit vieler Anthroposophen Rudolf Steiners Zielen direkt entgegenstand, dürfte – auch für Martins – unstrittig sein. Dies ist besonders fatal, da ja die Anthroposophie niemals für den Elfenbeinturm gedacht war, sondern für sozial heilsames Tun und weltgeschichtliche Wachheit.

Für dieses Versagen möchte ich noch etwas erwägen, was bei Martins anklingt, aber stärker gewichtet werden sollte. Es ist keine Entschuldigung, aber vielleicht erhellend: Die Anthroposophen hatten bis 1925 mit einem Rudolf Steiner zu tun, der ungemein impulsierend »Tochterbewegungen« in Gang setzte. Steiner meinte, er werde wesentlich länger leben, bis ca. 1950. Als er überraschend starb, entbrannte ein Kompetenzkampf all derer, die sich von Steiner für ihre jeweilige Mission besonders beauftragt fühlten. Das überforderte sie, so dass sie sich viel zu wenig mit der sogenannten »Außenwelt« beschäftigten. Die Dornacher Kämpfe und die Ausschlüsse von tragenden Mitgliedern lähmten die Verantwortungsfähigkeit. Da ist schwere Schuld entstanden, im anthroposophischen Bereich und auch gesamtgesellschaftlich. Man sollte Martins Buch lesen, auch wenn – und gerade weil – es beunruhigt.’

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(Hilversum, 1960) – – Vanaf 2016 hoofdredacteur van ‘Motief, antroposofie in Nederland’, uitgave van de Antroposofische Vereniging in Nederland (redacteur 1999-2005 en 2014-2015) – – Vanaf 2016 redacteur van Antroposofie Magazine – – Vanaf 2007 redacteur van de Stichting Rudolf Steiner Vertalingen, die de Werken en voordrachten van Rudolf Steiner in het Nederlands uitgeeft – – 2012-2014 bestuurslid van de Antroposofische Vereniging in Nederland – – 2009-2013 redacteur van ‘De Digitale Verbreding’, het door de Nederlandse Vereniging van Antroposofische Zorgaanbieders (NVAZ) uitgegeven online tijdschrift – – 2010-2012 lid hoofdredactie van ‘Stroom’, het kwartaaltijdschrift van Antroposana, de landelijke patiëntenvereniging voor antroposofische gezondheidszorg – – 1995-2006 redacteur van het ‘Tijdschrift voor Antroposofische Geneeskunst’ – – 1989-2001 redacteur van ‘de Sampo’, het tijdschrift voor heilpedagogie en sociaaltherapie, uitgegeven door het Heilpedagogisch Verbond

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