Het is blijkbaar website-vernieuwingstijd dit najaar. Nu
heeft ook News Network Anthroposophy Limited (NNA) zijn website, zowel de Engelse als de Duitse versie, helegaar vernieuwd (Christian von Arnim meldde het maandag bij Anthromedia, Internetportal Anthroposophie, met ‘NNA ab heute in neuer Form’). En dat wordt vandaag meteen
gevierd met een knallende recensie, getiteld ‘Im Zwiespalt zwischen Anthroposophie und Kapital’:
‘Erstmalig ist jetzt im Johannes Mayer Verlag Stuttgart eine Biografie des schwäbischen Unternehmers und Sozialreformers Emil Molt (1876-1936) erschienen, dem die Waldorfschulen ihre Existenz verdanken. Der “Vater der Waldorfschule” ist den wenigsten ein Begriff. NNA-Korrespondent Wolfgang G.Vögele hat sich das Buch angesehen, in dem viel Unbekanntes und auch Brisantes zutage gefördert wird.
Verfasser der Biografie ist Dietrich Esterl, pensionierter Waldorflehrer und profunder Kenner der Geschichte der Waldorfschulbewegung. Esterls neues Buch beruht auf langjährigen Recherchen, u.a. im Archiv des Bundes der Freien Waldorfschulen.
Molt ist sogar in der Waldorfschulbewegung kaum bekannt, nur zwei Institutionen tragen seinen Namen, die Emil-Molt-Akademie in Berlin und die Waldorfschule in Calw. Als Direktor der 1906 gegründeten Waldorf-Astoria-Company m.b.H. Cigarettenfabrik Hamburg-Stuttgart hatte Molt die Waldorfschule 1919 in Stuttgart als Betriebsschule für die Kinder seiner Arbeiter gegründet und aus seinem Privatvermögen finanziert. Sein Ziel war es, das Menschenrecht auf gleiche Bildung für alle zu verwirklichen. Bereits 1906 hatte sich der schwäbische Fabrikant der anthroposophischen Bewegung angeschlossen. Nach dem 1.Weltkrieg setzte sich Molt öffentlich für Rudolf Steiners Dreigliederung des sozialen Organismus ein. So lag es nahe, Steiner mit dem pädagogischen Konzept für die neue Schule zu beauftragen. Am Ende trat Molt gegenüber dem pädagogischen Initiator fast völlig in den Hintergrund.
In Esterls Biographie wird Emil Molt dem Leser als Unternehmer mit seinen Erfolgen und Niederlagen nahegebracht, denn wie viele Unternehmer der anthroposophischen Bewegung stand auch Molt im Spannungsfeld zwischen Kapitalismus und anthroposophischen Reformbestrebungen. Sein Engagement und seine Mitarbeit in einigen daraus hervorgegangenen Institutionen führte zu internen Konflikten. Biograf Esterl scheut nicht davor zurück, diese klar zu benennen bis hin zu den Spannungen, die sich offenkundig auch zwischen Molt und Steiner ergeben haben.
Die Biographie ist übersichtlich in vier Hauptkapitel gegliedert, enthält einen dokumentarischen Anhang mit einem Vortrag und einer Ansprache Molts sowie einem Exkurs über die “Waldorf-Bücherei”, eine Schriftenreihe, an der namhafte deutsche Schriftsteller mitwirkten. Für den Werdegang der Firma Waldorf Astoria zieht Esterl Berichte von Molts Privatsekretär Otto Wagner heran; er bringt auch Zitate aus bisher unveröffentlichten Briefen von Waldorflehrern, die sich über Molt äußern. Das Buch besitzt ein hilfreiches Personenregister und ist mit sorgfältig ausgewähltem, qualitativ hochwertigem Bildmaterial ausgestattet.
Der gelernte Kaufmann Emil Molt gründete 1906 mit zwei Geschäftspartnern seine eigene Zigarettenfabrik. Das Unternehmen florierte und beschäftigte 1919 etwa 1000 Mitarbeiter. Geschäftsreisen führten Molt in die Tabak-Anbaugebiete Griechenlands und der Türkei. Molt kümmerte sich vorbildlich um die sozialen und kulturellen Belange seiner Arbeiter. So erwarb er für seine Arbeiter zwei Erholungsheime. 1918 richtete er firmeneigene Arbeiterfortbildungskurse ein. Die Werkszeitung “Waldorf-Nachrichten” sollte die Allgemeinbildung seiner Arbeiter fördern.
Für Molt war die soziale Frage auch immer eine Erziehungsfrage. Schon auf einer Betriebsratssitzung am 23.4.19 hatte er die Absicht geäußert, eine Betriebsschule zu gründen. Nach Molt müssten zuerst die Gedanken und Gefühle der Menschen sozialisiert werden, ehe die Gesellschaft sozialisiert werde (S.87). In seiner Betriebszeitung ließ er die von der SPD geforderte “Einheitsschule” diskutieren.
Noch rechtzeitig vor der beginnenden Geldentwertung kaufte Molt aus seinen Privatmitteln ein Schulgebäude an und stattete die Schule mit 100.000 Mark Anfangskapital aus. Die Schule begann mit 256 Schülern: 191 Arbeiterkindern und 65 Kindern aus besser gestellten anthroposophischen Familien. Das Schulgeld für die Arbeiterkinder zahlte die Fabrik. Auch nach dem späteren Verlust seiner Firma zahlte Molt die Schulgelder “seiner” Arbeiterkinder persönlich weiter. Steiner regte an, dass diese Schule allen Kindern offen stehe und nicht nach Herkunft, Religion, Geschlecht oder Begabung selektiert werden solle.
Wie aus den Bauplänen hervorgeht, an denen Molt mitbeteiligt war, hatte er schon 1920 vorausschauend an eine Hochschule und einen Kindergarten auf dem Schulgelände gedacht.
Der bislang noch kaum aufgearbeitete Themenkomplex “Steiners häufige Konflikte mit seinen Mitarbeitern” spiegelt sich auch in Molts Biographie. Die Ursachen dieser Konflikte wurden bisher eher den Mitarbeitern angelastet. Hier geht Esterl nun einen anderen Weg und stellt die Frage, ob nicht auch Rudolf Steiner z.B. durch unglückliche Besetzung bestimmter Positionen mit zu den Konflikten beigetragen hat.
Den Schwerpunkt der Darstellung legt Esterl auf die Jahre nach 1922, die bisher kaum dokumentiert worden sind. Esterl sieht z.B. einen “tragischen Bruch” in Molts Biographie, der sich aus dem weiteren Schicksal der Waldorf-Astoria-Fabrik ergeben hat.
Hier konzediert Esterl Schwierigkeiten in der Auswertung der Dokumente: Vor allem der Zusammenhang der Astoria-Firmengeschichte mit der von Molt initiierten Wirtschaftsassoziation “Der Kommende Tag AG” sei schwer durchschaubar, u.a. weil wichtige Unterlagen in den Archiven fehlten und weil die Memoiren der Zeitzeugen oft widersprüchlich seien.
Sicher ist sich Esterl aber in einem Punkt: Molt habe das Vertrauen Steiners verloren, als die Futurum AG scheiterte und Molt die Aktien seiner Fabrik in Deutschland verkaufte. Molt fühlte sein Lebenswerk, die Astoria Fabrik vom “Kommenden Tag” abgestoßen, obwohl sie wirtschaftlich die besten Zukunftschancen gehabt habe.” “Es war”, resümiert Esterl, “als habe man einem Segelschiff den Mast abgesägt, weil das größte Segel gerade nicht genügend Geschwindigkeit brachte.” (S.270)
Esterl hebt die Bedeutung der letzten Lebensjahre Molts für die Existenz der Waldorfschule hervor, deren Schließung 1938 Molt nicht mehr erlebte. In der schwierigen Situation nach der Machtergreifung Hitlers sieht Esterl in Molt einen Protektor der Schule, der sich gegen eine Anpassung an die Vorgaben des NS-Staates gewandt habe. Als Vorkämpfer für die Dreigliederung habe Molt die Gefährdung der Schule durch ein totalitäres System gesehen.
In diese Jahre fällt auch die Spaltung der Anthroposophischen Gesellschaft (1935), deren Folgen auch im Stuttgarter Lehrerkollegium schmerzlich spürbar waren. Bereits 1931 war das Stuttgarter Kollegium ideologisch gespalten, was die ihm von Steiner noch aufgetragene Kontrollfunktion bei Schulneugründungen im In- und Ausland erschwerte.
Nach der Machtergreifung mussten sich die deutschen Waldorfschulen zwischen Gleichschaltung und Schließung entscheiden. Die einzelnen Schulen taten dies auf sehr unterschiedliche Weise, aber auch in den zuständigen NS-Behörden herrschte anfangs noch Uneinigkeit über die Haltung zur anthroposophischen Pädagogik. Esterl spricht hier gleichwohl von “Grauzonen der Abgrenzung”, die trotz grundsätzlicher Unvereinbarkeit der Waldorfpädagogik mit der NS-Ideologie bestanden haben. Auch Molt habe sich zum Teil an “fragwürdigem” Taktieren gegenüber den NS-Machthabern beteiligt. Am Ende zieht Biograf Esterl jedoch ein entlastendes Fazit: Durch seine stets vermittelnde Funktion zwischen den einzelnen Fraktionen im Lehrerkollegium sowie zwischen dem Teil der Eltern der Waldorfschule, der der NSDAP nahe stand und dem Kollegium sei es Molt zu verdanken, dass die Waldorfschule in ihrer Substanz erhalten geblieben sei.
Hätten die Waldorfschulen durch ein Mehr an Anpassung im NS-Staat überlebt, wie dies von den der NSDAP nahestehenden Teilen der Elternschaft gefordert worden war, so gäbe es heute keine einzige Waldorfschule mehr, resümiert Esterl. Die Alliierten hätten diesem Typ von Schule keine Genehmigung erteilt.
Molt hat die Schließung “seiner” Waldorfschule in Stuttgart nicht mehr erlebt, er starb 1936. In Molts Autobiographie sei der Schmerz über gescheiterte Aktionen und interne Zerwürfnisse spürbar, betont Esterl.
Dabei sieht der Molt-Biograph Parallelen zwischen den Pionierjahren der Anthroposophie und der Gegenwart. Steiner wollte durch direktes Einwirken auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und mit praktischen Modellen wie der Waldorfschule verhindern, dass sich Katastrophen wie der erste Weltkrieg wiederholen. Heute seien die globalen Krisen eher größer geworden, es gäbe aber auch deutliche Anzeichen für neue Ideen, die optimistisch stimmten.
Anthroposophie sei bis in die 1970er Jahre ein kaum beachtetes Exotikum geblieben. Die Fragen, die Molt bewegt hätten, stellten sich heute erneut in der Auseinandersetzung mit Anthroposophie-Kritikern. Nüchtern stellt Esterl fest, die Anthroposophische Gesellschaft habe es versäumt, ihre “inneren Verhältnisse” sachgemäß aufzuarbeiten. In Folge dieses Versäumnisses leide sie heute an Überalterung und Mitgliederschwund und kämpfe um ihr Überleben.
Esterl bedauert, dass immer mehr Mitarbeiter anthroposophischer Institutionen ohne Bezug zur Anthroposophischen Gesellschaft, ja zu den Grundlagen der Anthroposophie arbeiteten. Gleichzeitig wachse die Akzeptanz der Praxisfelder und weltweit regten sich Fragen nach dem “Bewusstsein unseres Menschentums”, was ja Kernanliegen der Anthroposophie sei.
Die These vom Angekommensein der Anthroposophie in der Mitte unserer Gesellschaft teilt Esterl nicht, glaubt aber, dass sie das Potential dafür besitze: Gefragt seien hier vor allem Praktiker, wie Molt einer gewesen sei. Dieser habe sich bemüht, eine authentische Sprache zu finden, die von Zeitgenossen verstanden werden konnte. Außerdem sei es ihm darum gegangen, eine Kultur des sozialen Zusammenwirkens zu finden, die Kräfte freisetze und nicht lähme. Trotz vieler Hindernisse und Rückschläge sei sich Molt sicher gewesen, wertvolle Keime gelegt zu haben. Gerade deshalb eröffne seine Biographie einen wichtigen Aspekt zum Verständnis der Anthroposophie im 20. Jahrhundert.
Dietrich Esterl: Emil Molt 1876-1936. Tun, was gefordert ist. Stuttgart: Verlag Johannes M. Mayer 2012, 344 S., € 24.80, ISBN 978-3-867-83026-3’
Voordat ik het boek dat recent juist van deze recensent is
uitgekomen opnieuw onder de aandacht breng (dat deed ik om te beginnen al in ‘Kalenberg’ op 5 mei), eerst een verwant thema, dat overigens
hier al meerdere malen aan bod kwam, met name in de handen van deze, hier vaak
aangehaalde, jonge auteur. Ik doel op het bericht op de website van Info3
vandaag, ‘Rassismus-Vorwurf
gegen Anthroposophie: Einfache Antworten nicht in Sicht’:
‘Wissenschaftliche Studie beleuchtet Rudolf Steiners wechselnde Positionen zum Thema “Rassen”
In der öffentlichen Debatte um die Anthroposophie spielt der Vorwurf des Rassismus gegen ihren Begründer Rudolf Steiner immer wieder eine Rolle. Eine neue Studie untersucht nun erstmals chronologisch und werkimmanent Steiners über die Jahre schwankende Position zum Thema “Rassen”.
Die Diskussion über Steiners Äußerungen über “Rassen” hat neben polemischen Anschuldigungen und apologetischen Entgegnungen bisher auch einige wissenschaftliche Untersuchungen hervorgebracht. Die im Frankfurter Info3-Verlag erschienene Studie Rassismus und Geschichtsmetaphysik. Esoterischer Darwinismus und Freiheitsphilosophie bei Rudolf Steiner des jungen Autors Ansgar Martins verfolgt nun jedoch erstmals das Thema der “Rasse” chronologisch durch Steiners gesamtes Werk hindurch.
In einem Interview in der Info3-November-Ausgabe erläutert Martins seine Ergebnisse. Steiner habe im Vergleich zu Zeitgenossen, für die “Rasse” und Abstammung entscheidende Faktoren waren, tatsächlich “eher auf der liberalen Seite” gestanden und etwa in einem seiner Hauptwerke, der Philosophie der Freiheit, betont, dass “das Individuum niemals über “Gattungsmerkmale” verstanden werden könne.” Dennoch habe Steiner mit seiner Zuwendung zur Theosophie – 1902 wurde er Generalsekretär der deutschen Theosophischen Gesellschaft – auch deren Vorstellung einer kosmischen Evolution übernommen, die damals in Verbindung mit den weit verbreiteten Rassenstereotypen zum Bild von verschiedenen “Wurzelrassen” führte, in denen sich die Menschheit als Ganze weiterentwickele. Anders als viele Anthroposophen, die Steiners Verwendung des Begriffs der “Wurzelrassen” oftmals so deuten, dass er damit nur kulturelle Phasen gemeint habe, sieht Martins hier durchaus biologistische Aspekte im Vordergrund.
“Uns heute scheinen Individualismus und Rassismus unvereinbar, aber historisch ist das komplizierter”, betont Martins im Interview. “Es gibt hässlichen Antijudaismus bei Marx, rassistische Stereotype bei Kant, Hegel, sogar Hannah Arendt – und nicht zuletzt gibt es individualistische Töne als Teil völkischer Propaganda.” Weder für die Anhänger noch für die Kritiker der Anthroposophie gebe es in dieser Hinsicht einfache Antworten: “Hier herrscht große Verwirrung, weil viele Anthroposophen meinen, der Autor einer Philosophie der Freiheit könne per se nicht rassistisch sein und viele Kritiker, der Rassist Steiner könne doch kein ‘echter’ Individualist sein.”
Ansgar Martins (Jahrgang 1991) studiert Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt am Main. Derzeit ist er Hilfswissenschaftlicher Mitarbeiter an der Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie. Seit 2008 hat er zahlreiche Artikel zu den Thema Anthroposophie, Esoterik und Rassismus veröffentlicht, u.a. bloggt er unter http://waldorfblog.wordpress.com.
Ansgar Martins: Rassismus und Geschichtsmetaphysik. Esoterischer Darwinismus und Freiheitsphilosophie bei Rudolf Steiner
Info3-Verlag, Frankfurt am Main 2012
Kontext Band 13, 176 Seiten, kartoniert, € 14,80
ISBN 978-3-924391-63-8’
In ‘“Rassismus und Geschichtsmetaphysik” erschienen’ gaf
Ansgar Martins al op 10 oktober op zijn Waldorfblog de hele inhoudsopgave van
zijn boek prijs. Eergisteren kwam Themen der Zeit met dit interview, een beetje
misleidend getiteld (maar er staat dan ook een vraagteken achter) ‘Rudolf Steiner und der Humor?’
‘Michael Mentzel im Gespräch mit Wolfgang G. Voegele, dem Herausgeber des jüngst im Futurum-Verlag erschienenen Buches “Sie Mensch von einem Menschen! Rudolf Steiner in Anekdoten” über sein neuestes Buch.
Michael Mentzel: Mit dem vorliegenden Buch, das den Titel “Sie Mensch von einem Menschen” trägt, haben Sie einmal mehr dem nicht so bekannten und damit dem “anderen Rudolf Steiner” eine Reverenz erwiesen. Allerdings ist dieses Buch – anders als Heinrich Eppingers eher tiefgründig anthroposophische Auseinandersetzung [1] mit dem Humor im Werk Steiners – “nur” eine Sammlung von Geschichten und Anekdoten, die ohne weitere Kommentierungen und den Versuch weiterer philosophischer Darlegungen auskommt.
Wolfgang G. Voegele: Bedürfen Anekdoten heute noch, im Zeitalter des mündigen Individuums, eines Kommentars? Oder gar einer Leseanleitung? Können sie nicht für sich selbst sprechen? Auch in Bezug auf manche ungewohnten Ausdrücke setze ich auf die Eigenaktivität der Leser, da heute eine Fülle von Informationsmöglichkeiten zur Verfügung steht. Ich habe daher auf eine Erklärung spezifisch anthroposophischer Ausdrücke verzichtet. Was die Interpretation dieser Geschichten betrifft, vertraue ich erst recht auf das eigene Urteil der Leser. Für die einen werden diese Anekdoten erbauliche Weisheiten enthalten, die den Aussprüchen eines Konfuzius gleichkommen, für andere werden sie nur ein schlagender Beweis für die meisterliche Selbstinszenierung eines “wirren Propheten” sein. Für mich kein Grund, diese Anekdoten der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Ich bin nicht der Meinung, über Steiner sei heute schon alles Wesentliche gesagt, auch wenn “Experten-Urteile” manchmal diesen Eindruck erwecken.
MM.: Gleichwohl lässt schon der Titel des Buches erahnen, dass es nicht nur um eine Aneinanderreihung von Witzchen oder launigen Begebenheiten aus dem Leben Steiners geht, sondern tatsächlich um mehr ...
W.G.V.: Wie die meisten Anekdoten dienen auch die Steineranekdoten in erster Linie der Unterhaltung. Man wird aber bald bemerken, dass in vielen Texten ein ernster Unterton mitschwingt, der nachdenklich macht. Meine Absicht war, mit diesen Anekdoten bestimmte Wesenszüge Steiners in Erinnerung zu rufen, die oft vergessen oder verdrängt werden: seine Bescheidenheit im menschlichen Umgang, seine Fähigkeit zur Selbstkritik und seinen unermüdlichen Kampf gegen die schlimme Trias, die sich mitunter auch unter seinen Anhängern breit machte: Phrase, Konvention und Routine. Von nachhaltiger Wirkung scheint Steiners antidogmatische Einstellung gewesen zu sein. Gerade die “Schinken-Anekdote”, oder die Geschichte des demonstrativ Fleisch essenden Vegetariers Steiner haben sich tief in das kollektive Gedächtnis eingeprägt. Der lächelnde und lachende Steiner brachte auf wunderbare Weise Erstarrtes zum Fließen ...
MM.: Was ja auch in der Geschichte von dem umgeworfenen Bierglas während eines Vortrags an der Arbeiterbildungsschule deutlich wird, als es um Heraklit ging: “Alles fließt!” Ein gutes Beispiel für seine Geistesgegenwart und auch eine gehörige Portion Situationskomik .[2]
W.G.V.: Er war immer für eine Überraschung gut. Wo seine Umgebung Tiefschürfendes von ihm erwartete, wurde sie durch menschliche Normalität überrascht. Wer auf banale Witze eingestellt war, erlebte das geistreiche Bonmot. Und wer ernstlich geglaubt hatte, Steiner sei «von morgens bis abends nichts als Geistesforscher» gewesen, sieht sich plötzlich eines Besseren belehrt. Jede Anekdote zeichnet sich durch ein Überraschungsmoment aus. Die Ohrenzeugen waren oft frappiert, erstaunt, sprachlos. Seine Begabung, Entwicklungen in Gang zu setzen und den unterschiedlichsten Menschen bei der Entfaltung ihrer Fähigkeiten zu helfen, hatten viel mit menschlicher Weitherzigkeit, aber auch oft mit einem souveränen Humor zu tun. Bei einer so facettenreichen Gestalt wie Steiner wundert es nicht, wenn scheinbar Unvereinbares nebeneinander steht: Beispiel «Pünktlichkeit»: Einmal lässt Steiner keine Schlamperei durchgehen, in anderen Fällen zeigt er sich großzügig. Ein Lehrstück in lebendigem Pragmatismus und moralischer Phantasie. Dem entspricht auch, dass die Anthroposophie nicht eine Lehre ist, sondern eine Lebens- und Geisteshaltung, eine Methode, dem Leben gerecht zu werden. Denn neben der Unterhaltung soll dieses Buch auch der Beseitigung von Vorurteilen dienen. Es ist zu hoffen, dass mancher Leser zu dem Resultat kommt: «Steiner war ja ganz anders, als ich mir bisher vorstellte». Ein Persönlichkeitsmerkmal aber sollte deutlich werden, das in der Öffentlichkeit immer noch viel zu wenig bekannt ist: Steiners unprätentiöses Auftreten, seine schlichte Menschlichkeit und – das peinlich emotionale Wort verschwindet allmählich aus dem Wortschatz – seine Güte.
MM: In Ihrem Buch “Der andere Rudolf Steiner” liegt der Fokus auf den Stimmen von Steiners Zeitgenossen, die das Bild von Steiner doch an einigen Stellen angekratzt haben. Ich denke da beispielsweise an Kurt Tucholsky, der gerade von Steiner-Kritikern immer wieder gern und genüsslich zitiert wird.
WGV: Mein Buch “Der andere Rudolf Steiner” (bisher in dritter Auflage) wird von Anthroposophie-Kritikern mehr gelobt und häufiger zitiert als von Steineranhängern. Das sagt zwar noch nichts über die Qualität des Buches aus, aber vielleicht doch etwas über die Position des Herausgebers. Mein Standpunkt ist der eines Historikers: Ich möchte zuerst möglichst viele Quellen kritisch sichten und der Öffentlichkeit möglichst ungekürzt zur Verfügung stellen. Was mein Urteil über Steiner betrifft, bin ich normalerweise sehr zurückhaltend. Ich möchte herausfinden, wer Steiner wirklich war und worin das Geheimnis seines Erfolgs bestand und immer noch besteht. Deshalb weise ich gern auf die Primärquellen hin: Steiners Briefe, seine Selbstzeugnisse und vor allem die von ihm selbst herausgegebenen Schriften. Sehr nahe kommt man ihm auch in den Augenzeugenberichten von Nichtanthroposophen und in den Anekdoten, die über ihn im Umlauf kamen. Der Mensch Rudolf Steiner ist heute noch mehr gefragt als sein ziemlich schwer verständliches Werk. Mehr als anderswo ist in der Anthroposophie das Werk mit der Person identisch. Und ich meine, je mehr man in Steiners vielschichtigen Charakter, in seine Persönlichkeit eindringt, desto eher kommt man auch seinen Absichten und Zielen auf die Spur.
MM: Das Buch zeigt Steiner als einfühlsamen Lehrer und wirklich humorvollen Menschen, macht andererseits aber auch deutlich, dass er die Fähigkeit besaß, sich in die jeweiligen Situationen geistesgegenwärtig hineinzustellen, und vielleicht ist dieses Anekdotenbuch auch anders, als man es von Ihnen erwartet?
W.G.V.: Anthroposophische “Rebellen”, die das manchmal radikal erscheinende Buch “Der andere Rudolf Steiner” begrüßt haben, werden möglicherweise enttäuscht sein, denn Steiner erscheint in den Anekdoten eben auch als der Allwissende und Hellsichtige, was manchem arrogant erscheinen mag. Aber ich habe damit keine ideologische Kehrtwende vollzogen, denn vieles spricht gerade in diesen Anekdoten auch gegen Personenkult. Es tut der Größe Steiners keinen Abbruch, wenn man ihn auch in seinen menschlichen Zügen oder Schwächen darstellt. Da herrscht noch immer erheblicher Nachholbedarf.
MM: Das Besondere an Ihrem Buch ist ja, dass es einen weitgehend privaten Steiner präsentiert, der den Leserinnen und Lesern – jedenfalls in einem solchen Kontext – bisher kaum bekannt war, wie sind sie überhaupt zu diesem Thema “Anekdoten” gekommen?
W.G.V: Ich bin ja in gewissem Sinn vorbelastet durch meine früheren Publikationen, die fast alle den Charakter der historischen Dokumentation tragen. Meine mehrjährige Mitarbeit im Steinerarchiv seit 1998 brachte mich noch näher an die Quellen heran. Ich bin der Meinung, dass die Überlieferung nicht abreißen darf, insofern fühle ich mich als Chronist. Heutigen und nachfolgenden Generationen, die Steiner ja nicht mehr erlebt haben, wollte ich ein möglichst authentisches Bild vermitteln. Es sind nun mal die Anhänger seiner nächsten Umgebung, die ihn in Alltagssituationen erlebten. Manche Steinerbiographen bedauern, dass man so wenig über Steiners Privatleben weiß. Um so mehr ergehen sie sich in phantasiereichen Spekulationen. Sie scheinen immer noch zu hoffen, dass es einem verwegenen Journalisten gelingen möge, die Dornacher Geheimtresore zu knacken und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Denn ihrer Ansicht nach sollen die Anthroposophen ja Meister im Vertuschen und Verheimlichen sein. Aus meiner mehrjährigen Mitarbeit im Archiv kann ich versichern, dass solche Tresore nicht existieren und dass auch die zahlreichen Notizbücher Steiners, mit denen ich täglich zu tun hatte, nichts Sensationelles, wohl aber manches Nachdenkenswerte enthalten. Aber es kommt bei mir auch noch eine frühe Neigung zu Karikatur und Satire dazu, die ich auch immer wieder zeichnerisch und textlich unter Beweis stellte.
MM: Die Neigung vieler Anthroposophen, die private Seite Steiners auszublenden und sich auf den überpersönlichen Steiner zu konzentrieren, mag auch daherkommen, dass Steiner in der Einleitung zu seinem “Lebensgang” sehr darauf bedacht war, “das, was ich zu sagen hatte, und was ich tun zu sollen glaubte, so zu gestalten, wie es die Dinge, nicht das Persönliche forderten.”[3]
W.G.V.: Manche könnten vermuten, Steiner habe sich nach seinem Beitritt zur Theosophischen Gesellschaft im Jahre 1902 nur noch mit esoterischen Dingen befasst und sein früheres Interesse an der sozialen Frage, an der aktuellen Weltpolitik oder an der modernen Kunstentwicklung verloren. In Wirklichkeit stellte er diese Interessen in den Dienst seiner selbstgewählten neuen Lebensaufgabe als spiritueller Lehrer. So war es auch mit seinem Humor, den er nicht verleugnete, sondern kultivierte und oft als erzieherisches Mittel einsetzte. Das Anekdotenbuch soll auch das Verständnis für den lachenden Steiner, ein weitgehend unbekanntes Wesen, anbahnen. Er hat durchaus unter der Humorlosigkeit seiner “lieben Freunde” gelitten. Sie aber fanden es geschmacklos, wenn er absurde Szenen wie Scheerbarts “gebratene Flunder” auf die Eurythmie-Bühne brachte [4] und setzten die Szene bald wieder ab. Steiners eigene Humoresken sind bis heute ein Stiefkind der Eurythmie. Seine Neigung zu grotesken Sprachspielen, von denen einige noch unveröffentlicht sind, lebte er vor seinen Anhängern nur selten aus.
MM: Nahezu durchgängig wird in Ihrem Buch auch die Fähigkeit Steiners sichtbar, sich bei seinen Begegnungen mit Menschen, sei es bei Vorträgen oder auch in anderen Zusammenhängen, so auf sein Gegenüber einzulassen, dass man ihn für einen der Ihren hielt. Das können wir ja auch in der Anekdote erleben, als man ihm gleich zum Präsidenten einer spriritistischen Vereinigung machen wollte.
W.G.V.: Die Anekdote “Ganz Einfach” beruht auf einem Vorkommnis, das Steiner selbst einmal in einem Vortrag geschildert hat. Im Kontext seiner Forderung, ein Anthroposoph müsse idealerweise die Sprache seines Pubikums sprechen, brachte er als Beispiel seinen besagten Vortrag vor Spiritisten: “Ich wurde gerufen, um einen anthroposophischen Vortrag zu halten in einem Berliner Spiritistenverein. (...) Der Vortrag hat den Leuten (...) so gut gefallen, dass sie mich hinterher zum Präsidenten gewählt haben. Es sind dazumal einige Theosophen mit mir gegangen, die (...) haben eine heillose Angst bekommen, denn ich konnte doch nicht der Präsident des Spiritisten-Vereins werden. Was soll nun geschehen? fragten sie mich. Ich werde nicht mehr hingehen, erwiderte ich. Dadurch hat sich die Präsidentschaft von selber aufgehoben. Aber reden konnte man auch zu diesen Leuten, und sie haben doch etwas davon gehabt.” [5]
Man sieht, auch hier blieb Steiner seinem Prinzip treu, die “geistige Waage” zu berücksichtigen. Man solle, so empfiehlt er in seinem Schulungsbuch [6], ein ausgewogenes Verhältnis schaffen zwischen seinen eigenen Intentionen und den Anforderungen der Außenwelt. Das konnte für Steiner bedeuten: Einladungen zu Vorträgen auch dann zu folgen, wenn sie von Organisationen kamen, mit deren Zielen er nicht übereinstimmte. Er bemühte sich im vorliegenden Fall wahrscheinlich, so zu sprechen, dass es ein Spiritist verstehen konnte, ohne sich von den Spiritisten vereinnahmen zu lassen. Das Gleiche gilt von seinem Wirken in der Theosophischen Gesellschaft: er eignete sich deren Sprachgebrauch an, um verstanden zu werden. Ganz ähnlich war es mit seinen Vorträgen in der marxistisch orientierten Arbeiterbildungsschule oder gar in seinem berühmten Vortrag vor den Arbeitern der Daimlerwerke 1919, der, nachdem er gedruckt war und in die Hände von Akademikern geriet – für die er nie bestimmt gewesen war – als “demagogisch”“ verurteilt wurde. Viele heutige Missverständnisse, wie etwa die vermeintlich “rassistischen” Stellen der späteren Arbeitervorträge, beruhen auf der Verkennung und Ausblendung der jeweiligen konkreten Vortragssituation.
MM: Verstärkt vielleicht sogar durch die Neigung etlicher Vortragsredner, sich in ihrer Redeweise an Steiner anzunähern und ihn geradezu nachzuahmen ...
W.G.V.: Das mag sein. Noch in den 1950er und 1960er Jahren gab es kaum einen anthroposophischen Redner, der nicht bestimmte Steinersche Ausdrücke und Redewendungen gebrauchte (“Impuls”, “erkraften”, “Menschheitsentwicklung”, “wiederum aus anderen Untergründen heraus” usw.) In manchen anthroposophischen Zeitschriften hat diese Gewohnheit bis heute überlebt.
Aber in der Beherrschung der Kunst, sich seinem jeweiligen Publikum verständlich zu machen, ist Steiner sicher eine Ausnahmeerscheinung gewesen. Seine Flexibilität des Denkens und seine Variabilität der Ausdrucksweise wird heute, im Zeitalter griffiger Schlagworte und enger Definitionen, vielfach als widersprüchlich oder standpunktlos-unbestimmt empfunden und entsprechend abgeurteilt. Das Unbestimmte, Verschwurbelte der Anthroposophensprache (Insiderjargon) dient einerseits der Abgrenzung nach außen, kann aber auch ein wunderbares Instrument zur Verschleierung und Beschönigung unliebsamer Fakten sein. Man lese etwa die offiziellen Verlautbarungen anthroposophischer Institutionen, wenn sie Mitarbeiter entlassen.
MM: Das wäre noch einmal ein anderes, gesondert zu behandelndes Thema ... Aber das neue Buch “Sie Mensch von einem Menschen” ist noch nicht so lange auf dem “Markt”. Gibt es denn bereits Reaktionen darauf und wenn ja, was sagt man denn in “unseren Zusammenhängen” dazu?
W.G.V.: Bisher sind die Reaktionen noch etwas verhalten, wes war aber so, dass die meisten Vorbehalte gegen meine Bücher und Aufsätze aus den traditionellen anthroposophischen Hochburgen Dornach und Stuttgart kamen. Und konkret zum aktuellen Buch: Leider kam eine vom Verlag beabsichtigte baldige Lesung im Dornacher Steiner-Archiv, wo ich vor Jahren meinen “anderen Rudolf Steiner” vorstellen durfte, nicht zustande. Dieser an sich marginale Vorgang ist für mich aber doch symptomatisch für manche Vorbehalte, die man meiner Arbeit und manchen Büchern des Futurum Verlags entgegenbringt. Die Absage erinnert mich daran, dass das Buch von Taja Gut “Wie hältst du’s mit der Anthroposophie?” im Jahre 2010 im Buchshop des Steinerarchivs auf “höhere Anordnung” hin nicht verkauft werden durfte. Zumindest darf gefragt werden, ob hier nicht ideologische Verunsicherungen und Befürchtungen im Hintergrund walten, die solche irrationalen Abwehrreaktionen hervorrufen.
MM: Ein Umstand, der einen Chronisten wie Sie, der doch erkennbar eine große Sympathie für den Gegenstand seiner Untersuchungen, in diesem Fall Rudolf Steiner, hegt, sicher ein wenig enttäuschen mag ...
W.G.V.: Durchaus. In meinen bisherigen Dokumentationen wird Steiners Charakter, sein alltägliches Verhalten, sein Umgang mit Freunden und der - oft auch sehr kritischen Umwelt - dargestellt. An Spekulationen oder Legendenbildungen beteilige ich mich nicht. Mich interessiert die Fragestellung: Muss eine Person, die wie Steiner so ungewohnte und scheinbar realitätsferne Ideen äußert, nicht auch im Alltag Spuren von “abnormem” Verhalten zeigen? Zum Beispiel Fanatismus, Intoleranz, Verlogenheit, Geheimniskrämerei usw.? Vielleicht hilft ein Vergleich mit Swedenborg weiter, dessen wissenschaftliche Fähigkeiten ihn nicht daran hinderten, sich als “Seher” zu betätigen.
MM: Herr Voegele, vielen Dank für das Gespräch und hoffentlich auf ein baldiges Wiedersehen bei einer Lesung!
Das Interview wurde telefonisch geführt, per Mail-Gespräch ergänzt und in Schriftform gebracht.
Wolfgang G. Vögele: Sie Mensch von einem Menschen! Rudolf Steiner in Anekdoten
Futurum Verlag, Basel
184 Seiten
ISBN – 978-3-85636-237-9
Preis: CHF 22.90 / EUR 17.90
Anmerkungen:
[1] Eppinger, Heinrich: “Humor und Heiterkeit im Leben und Werk Rudolf Steiners”
[2] W.G. Voegele: Sie Mensch ... Seite 18
[3] R. Steiner: GA 28, Mein Lebensgang
[4] W.G. Voegele: Sie Mensch ... S.165
[5] R. Steiner: GA 337b, S. 238 f.
[6] R: Steiner: GA 10, S. 108’
Tot slot nog een Duitse tekst, maar dit keer van een bekende
Nederlander, voor ons tenminste. Deze verscheen zondag 28 oktober, zijn vaste
publicatiedag, en betreft een onderwerp dat hier al uitgebreid aan de orde is
geweest. Maar van zulke dingen kun je geen genoeg krijgen; het kan helemaal geen kwaad het nog eens kort en helder
opnieuw te beschouwen. Jelle van der Meulen laat zijn pen spreken in ‘Wouter
Hanegraaff. (1) Der verdorbene Begriff des Esoterischen’:
‘In seinem bemerkenswerten Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture, 2012 in Cambridge erschienen, beschreibt Wouter J. Hanegraaff die Geschichte des esoterischen Denkens in der westlichen Kulturwelt. Professor Hanegraaf geht diskursiv-konstruktivistisch vor und dass heißt, er bewertet die inhaltlichen Ergebnisse des esoterischen Denken als solche nicht, sondern dokumentiert an Hand zahlreicher Quellen, wie das westliche esoterische Denken in der Renaissance entstanden ist, sich während der Zeit der Aufklärung weiter entwickelte und das zwanzigste Jahrhundert erreichte.
Bemerkenswert an seinen Untersuchungen ist, dass er das esoterische Denken nicht als irgendeine komische Nische in der Geschichte des modernen Denkens behandelt, sondern als ein Hauptakteur ansieht. Hanegraaff stellt überzeugend da, dass etwa die philosophische Aufklärung ohne das esoterische Denken nie in Erscheinung getreten wäre. Esoterisches Denken und aufgeklärtes Denken zeigen sich wie Brüder, wie Kain und Abel.
Im fünfzehnten Jahrhundert sind es vor allem die platonischen Humanisten wie Marsilio Ficino und Pico della Mirandola, die sich in Florenz darum bemühen, eine Art Brücke zu schlagen zwischen den alten Weisheiten aus dem Orient und dem Christentum. In den alten vorchristlichen Mysterien sehen sie eine Vorbereitung der christlichen Offenbarungen. Für Ficino zum Beispiel war Orpheus ungefähr identisch mit Christus, für Pico war die jüdische Kabbala eine verborgene Lehre, die direkt auf Moses zurückging. Im Denken der Früh-Renaissance spielte auch der Perser Zarathustra eine große Rolle, er wurde als der Urheber des “magischen” Weltbildes angesehen, was im Kern hieß, dass die Natur als eine von geistigen Wesenheiten erfüllte Wirklichkeit verstanden wurde.
Der geistige Humanismus von Ficino und Pico wurde von Anfang an von Seiten der christlichen Aristoteliker (sie waren auf Thomas von Aquin orientiert) kräftig attackiert. Hanegraaff spricht diesbezüglich von einem “Schatten” des Humanismus: Je stärker die Platoniker die alten Weisheiten ins Licht ihrer Aufmerksamkeit rückten, je vehementer wiesen die Aristoteliker sie als heidnisch und häretisch zurück.
Und als sich dann etwa ein Jahrhundert später die Bühne verwandelte – was sich bisher als “theologische” Debatte innerhalb der Katholischen Kirche vollzogen hatte, wurde eine “wissenschaftliche” und somit “akademische” Auseinandersetzung – kamen neue Werte ins Spiel. Was bis dahin noch “häretisch” genannt wurde, wurde ab jetzt einfach “dumm” genannt. Aus den sehr differenzierten Vorstellungen von Magie, Alchemie und Okkultismus wurden Karikaturen gemacht, die sich leicht anfechten ließen. Anders gesagt: die Inhalte und Arten des esoterischen Denkens wurden nicht mehr wahrgenommen, sondern als Aberglaube vom Tisch gewischt.
Dass allerdings Chemie nicht ohne Alchemie und Astronomie nicht ohne Astrologie denkbar ist, wurde aus dem europäischen Gedächtnis gestrichen. Hanegraaff betont die enge Beziehung zwischen dem esoterischen und dem naturwissenschaftlichen Denken, zeigt vor allem auch wie paradox die Verbindung ist. Der Vergleich zwischen Abel und Kain (kommt von mir, nicht von Hanegraaff) sagt etwas Wesentliches über die Beziehung aus. Was augenscheinlich wie zwei getrennte Welten aussieht, beruht im Grund genommen auf einem gemeinsamen Werdegang.
Über die Rosenkreuzer und die Freimaurerei (die “Erzählung” von geheimen okkulten Organisationen) kommt Hanegraaff im neunzehnten Jahrhundert zu Figuren wie Eliphas Lévi und Arthur Edward Waite, autodidaktische und esoterische Forscher, die von der akademischen Welt vollkommen negiert wurden. Hanegraaff weist fein darauf hin, dass alles was irgendwie mit Magie zu tun hatte, von der akademischen Welt mit “magischer” Macht ins Belanglose und Lächerliche befördert wurde.
Ich werde in den nächsten Wochen weiter über Hanegraaff schreiben. Für heute noch das Folgende. Aus den Ausführungen von Hanegraaff geht klar hervor, dass der Diskurs zwischen Esoterik und Aufklärung nicht vorbei ist, ganz im Gegenteil, wer den Werdegang der Moderne ernst nimmt, nicht nur historisch, sondern auch in Bezug auf die europäischen Werte (wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), die er erzeugt hat, kommt nicht drum hin, sich die Frage zu stellen: Welche (ironisch genug: verborgenen) Bausteine hat das esoterische Denken der heutigen Kultur geliefert?
Der Ansatz von Hanegraaff kann dazu beitragen, dass der offenkundig verdorbene Begriff des Esoterischen und Okkulten aus einem muffigen Keller hoch geholt, ans Tageslicht befördert und gereinigt wird. Man wird dann sehen können, dass das esoterische Denken nicht einfach “dumm” ist, sondern eine feinsinnige Betrachtungsweise des Lebens darstellt, ohne welche es so etwas wie Freiheit nicht gäbe.’