Bedoeld is: antroposofie in de media. Maar ook: in de persbak van de wijngaard, met voeten getreden. Want antroposofie verwacht uitgewrongen te worden om tot haar werkelijke vrucht door te dringen. Deze weblog proeft de in de media verschijnende antroposofie op haar, veelal heerlijke, smaak, maar laat problemen en controverses niet onbesproken.

donderdag 13 oktober 2011

Deskundigheid

Het is ondertussen kwart over elf in het Stade de France geworden, de toegift is begonnen.

Er is vandaag weer een magistrale bijdrage van Ansgar Martins verschenen op zijn ‘Waldorfblog’, die de wetenschappelijkheid van de antroposofie recht doet. En dat voor een – ik herhaal het nog maar eens een keer – twintigjarige ex-vrijescholier. Hij zegt zelf al dat het een veel te lange bijdrage is, maar dat weerhoudt mij niet om hem toch in zijn geheel over te nemen. Er komt zelfs nog een toetje achteraan, door Martins aangeraden, van Anna-Katharina Dehmelt. Maar eerst zult u door zijn tekst moeten, ‘Anthroposophische Geschichtsschreibung: Fundierte Daten, falsche Motivation?
‘“Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart” – vollmundig und selbstbewusst kommt der Titel eines Buches daher, das kürzlich im Berliner Wissenschaftsverlag erschien. Der Titel ist offensichtlich an das evangelische Standard-Handbuch “Religion in Geschichte und Gegenwart” angelehnt, das Cover erinnert optisch an Helmut Zanders “Anthroposophie in Deutschland” von 2007. Die Herausgeberin, Rahel Uhlenhoff, ist bekannt vor allem als Autorin der liberal-anthroposophischen Zeitschrift Info3 und als eloquent auftretende Aktivistin für das Bedingungslose Grundeinkommen (es gibt ein paar sehr schöne Youtube-Videos von ihren Vorträgen). In 15 ausführlichen Beiträgen von insgesamt 800 Seiten kommen einige der fundiertesten und weitsichtigsten anthroposophischen PublizistInnen und ForscherInnen wie Robin Schmidt, Günther Röschert und Uwe Werner zu Wort. Andere, wie Andreas Hantscher oder Bernhard Schmalenbach, sind gegenwärtig im akademischen Kontext tätig – wieder andere, wie Michaela Glöckler, Wolfgang Schad oder Johannes Kiersch, sind prominente Vertreter der anthroposophischen Szene.

In einem Geleitwort spricht sich Arthur Zajonc, Anthroposoph und Professor für Quantenphysik am renommierten Amherst College (Massachusetts), nahezu begeistert aus:

“Die wissenschaftliche Qualität der Beiträge und die umfangreiche Fachkenntnis der Autoren wird dieses zu einem für die kommenden Jahrzehnte maßgebenden Werk machen. ... Durch das Spektrum der Aufsätze gelangt man dazu, die Einsichten Rudolf Steiners, den Kontext der Genese der Anthroposophie im frühen 20. Jahrhundert sowie ihrer Anwendung in den Jahrzehnten nach seinem Tod zu würdigen.” (S. 7)

Offenbar ist man bemüht, das Buch gleich mit dem Erscheinen zu einem Standardwerk zu machen. Und dazu hat zumindest die Themenauswahl das Zeug! Die große Stärke der Beiträge liegt meiner Einschätzung nach keineswegs im ersten (“Genese”), dafür aber im letzten der von Zajonc genannten Punkte: Die Entwicklungen der anthroposophischen Entwürfe nach Steiners Tod. Christoph Strawe trägt hier zum Beispiel wichtige Stichworte und Wirkungsbereiche der “Sozialen Dreigliederung” zusammen (S. 671-689), auch die zwar wenigen, aber gehaltvollen Zeilen von Johannes Kiersch zur Entwicklung der Waldorfpädagogik (S. 450-464) will man nicht missen. Besonders dicht ist der Beitrag von Robin Schmidt: Anthroposophie – eine Übersicht zu ihrer Geschichte (S. 333-384). Es handelt sich um nüchterne und sehr gute Nachzeichnungen historischer Entwicklungen. Auf die Aufsätze in Uhlenhoffs Sammelband, die die anthroposophischen Praxisfelder, Kunst, Waldorfpädagogik, Medizin, Heilpädagogik, Landwirtschaft eingehen, komme ich in diesem Artikel aus Platzgründen leider nicht zurück, vielleicht nehme ich sie mir zu konkretem Anlass hier noch einmal ausführlicher vor. Sie bieten ausnahmslos gute Überblicke mit interessanten Interpretationen der anthroposophischen Theorie – deren problematischen Implikationen, von Karmalehre und Medizin bis zu typologischen Problemen, begegnen sie, entkommen ihnen aber selbst nicht immer.

Blavatsky: Flucht vor “dem Ich” in “den Osten”?

Ein bisschen unglücklich geraten ist dagegen der Aufsatz von Andreas Hantscher über “Rudolf Steiners Anthroposophie und ihr Verhältnis zur Theosophie”. Steiner, der bis 1913 Generalsekretär der Theosophischen Gesellschaft in Deutschland war, grenzte sich nachher von ebenjener ab und gab seine esoterische Weltanschauung als völlig eigenständig errungene “übersinnliche Forschung” aus, obwohl sie in der Außenperspektive in fast sämtlichen Grundlagen mit theosophischen Positionen lückenlos übereinstimmt. Das lassen AnthroposophInnen natürlich ungern auf sich sitzen – sie betonen vor allem Steiners eigenständigen erkenntnistheoretischen Standpunkt vor dessen Wende zur Theosophie, dem er auch durch seine theosophischen Phase treu geblieben sei. Andreas Hantscher nun versucht, Steiner vom theosophischen Umfeld abzuheben. Dabei entsteht eine historisch fundierte Beschreibung der immens produktiven theosophischen “Szene” und Geschichte. Aber es finden sich mit leidiger Regelmäßigkeit und Redundanz Stellen, in denen die Gründer-Ikone der Theosophen, die Okkultistin Helena Blavatsky, auf unfaire Weise denunziert wird. Da wird etwa die angeblich “geschwätzige, angelesene, aber unverdaute ‘Gelehrsamkeit’ der allermeisten theosophischen Bücher” kritisiert (S.302) – hier wäre Hantscher zu empfehlen, mal einen Blick in die ähnlich einzuordnende Literatur von Steiner-Epigonen zu werfen! Hantscher schreibt von der vermeintlichen “Unfähigkeit” der Theosophie, “klare Unterscheidungen zu machen”, dass sie “zwischen buddhistischen, hinduistischen und (darauf bezogen z.T. neutralen) Yoga- und Tantra-Termini herumlaviert”, so dass es “völlig unmöglich” sei, “zu definieren, was unter diesen Begriffen zu verstehen ist, da verschiedene theosophische Autoren zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Werken jeweils etwas andere Vorstellungen mit den jeweiligen Termini verbinden” (S. 319). Willkommen in der Welt der Meinungsfreiheit! Schließlich wird Blavatsky vorgeworfen, das theosophische Gedankengebäude sei aus einem Mangel an Ichbewusstsein (!) entstanden: Sie habe versucht, “dem Ich und dessen Verpflichtung zur Übernahme von Verantwortung ein Schnippchen zu schlagen” (S. 300) und sei deswegen (?!) “schließlich in fernöstliche Gefilde” abgedriftet. In Hantschers Text manifestiert sich einmal mehr eine anthroposophische Völkerpsychologie, die der kitschigen und kaum zutreffenden Vorstellung vom “ich-losen”, kulturevolutionär zurückgebliebenen Osten und dem “ich-bewussten”, avantgardistischen Westen huldigt. Einfallsloserweise wird “die” Anthroposophie als “westliches” System gedacht und dann “die” Theosophie, trotzdem ihre diversen Spielarten Hantscher gegenwärtig sind, dem ichlosen “Osten” zugeschlagen.

Das ist nicht der Fall. Blavatskys Theoreme waren so wenig östlich wie diejenigen anderer Theosophen: Die heute für genuin theosophisch gehaltene Evolutionstheorie, in der verschiedene “Rassen” einander evolutionär beerben sollten, verdankte sie nicht dem Hinduismus, sondern dem martinistischen Esoteriker Fabre d’Olivet (vgl. Jenseits der Namen, Licht, mehr Licht!), die esoterischen Grundlagen und meditativen Schulungswege hingegen stammten aus dem “animalischen Magnetismus” Franz Anton Mesmers, dessen Versuch, hypnotisch auf organische “Lebenskräfte” zuzugreifen, in Europa zu einer Revitalisierung von Meditationstechniken geführt hatte (vgl. die sehr empathisch und transzendenzoffen geschriebene Habilitationsschrift von Karl Baier: Meditation und Moderne). Blavatsky und Olcott verschleierten die mesmeristischen Traditionen allerdings mit Hindu- und Yoga-Termini. Sie alle passen aber letztlich ebenso stringent (oder nicht-stringent) zusammen wie der Weltanschauungskosmos Steiners, und wenn TheosophInnen flexibler und freilassender mit ihren Termini umgingen, ist das wahrlich kein Kompliment für AnthroposophInnen – in deren Umfeld beginnt man erst seit wenigen Jahren verstärkt, in Dialog mit jungianischen oder “integralen” Weltanschauungsgebilden zu treten. Dieser verdrehten Wertung Hantschers steht aber eine solide Datenbasis gegenüber: Er bietet nicht nur interessante Übersichten über Kongruenzen und Differenzen kabbalistischer, hinduistischer und theosophischer Systeme, sondern unterfüttert seinen Beitrag auch mit wertvollen Literaturhinweisen. Wer seine Wertungen mit Vorsicht liest, kann dem Beitrag zweifellos einige Informationen entnehmen.

Äther, die Osterinsel und BSE

Eine gute thematische Orientierung bietet Wolfgang Schad, emeritierter Professor für Evolutionsbiologie der anthroposophischen Hochschulgründung Witten-Herdecke. Er untersucht Steiners Haltung zu den Naturwissenschaften, wobei er klarstellt, dass “Steiner hier nicht zum Naturwissenschaftler umstilisiert werden” soll (S. 168). Er habe sich in “manchen Facetten der Naturwissenschaft” gut ausgekannt, wenn er auch “in Einzelheiten irrte”. Der Beitrag ist für mich vor allem interessant, weil er einen anthroposophie-immanenten Umgang mit diesen Irrtümern Steiners zu liefern versucht: Schad beleuchtet etwa Steiners Schilderungen einer “kosmischen” Evolution. In Steiners Weltbild hat sich die Erde aus “übersinnlichen” Welten heraus erst zu ihrer heutigen Gestalt verdichtet, was der Esoteriker mit zahlreichen Details anreicherte. So meinte Steiner, wie Schad ausführt, “dass die Pflanzen der Karbonzeit keine physischen Pflanzen gewesen seien, sondern, was so aussieht, seien nur hauchartige Eindrücke von Ätherwirkungen [sprich: “übersinnlich”-subtilen “Lebenskräften” – AM] in einem undifferenzierten Kohlebrei.” (S. 156, vgl. Steiner: GA 300). Das kann und muss Schad als Evolutionsbiologe kritisieren:

“Wer selbst einmal im Karbongestein Pflanzenfossilien gesammelt hat, kann sich leicht davon überzeugen, dass es sich einst um reale, physisch lebendige Pflanzenfossilien gehandelt hat. Im Mikroskop ist die Zellstruktur der Pflanzengewebe noch gut zu erkennen ... auch schon fossile Amphibien und erste Reptilien sind aus dem Karbon gut bekannt.” (ebd.)

Schad nun deutet Steiners Irrtümer auf dessen meditativ-kontemplativen Versuch, botanische und evolutionsgeschichtliche Zusammenhänge zu ordnen: “Nicht immer gelang es ihm, sinnliche Erfahrung und [spekulativ-meditatives – AM] Denken zur Deckung zu bringen.” (ebd.). Schad trägt auch Äußerungen Steiners über die potentielle Fehlbarkeit “höherer Erkenntnis” zusammen, von denen viele bisher nicht oder selten diskutiert wurden.

“Das wohl prosaischste Beispiel, wo Steiner sich irrte, findet sich in einem späten Vortrag (28.11.1922) in der Bemerkung, dass durch schwere Stürme im Südpazifik die Osterinsel untergegangen sei ... Sie steht heute noch. Im September 1922 fand ein großes Seebeben im Pazifik tatsächlich statt, die Weltpresse meldete jedoch irrtümlich den Untergang der Osterinsel.” (S. 152)

Dass “geistige Erfahrung” weder Irrtumsfreiheit noch meta-historisches Wissen bedeutet, ist eine Botschaft, die sich im anthroposophischen Kontext leider noch nicht durchgesetzt hat. Unkritische Verehrer verteidigen jede noch so abwegige Äußerung Steiners, und es ist außerordentlich erleichternd, dass Schad hier an Einzelheiten das Gegenteil bietet. Er will allerdings auch aufzeigen, wo ein anthroposophisch-”ganzheitlicher” Zugang die heutige Naturwissenschaft bereichern könne. Dabei bemüht er – neben vielem anderen! – folgende Anekdote:

“1923 sagte er [Steiner – AM] unschwer voraus, dass pflanzenfressende Tiere wie unsere Hausrinder, wenn sie vorwiegend mit Fleischnahrung gefüttert würden, gehirnkrank würden ... Um 1980 war es dann soweit. Aus der Tierindustrie anfallende Fleischreste wurden zu Tiermehl verarbeitet ... Im Gehirn der Tiere reicherten sich nicht mehr abbaubares Eiweiß und Harnsäure an. Der Rinderwahnsinn (Bovine Spongiforme Enzephalopathie, BSE) brach aus.” (S. 159).

Eine hellsichtige Prognose Steiners? Wer im Original nachliest, kann unschwer feststellen, dass Steiner zwar wortwörtlich von “verrückt” werdenden Ochsen sprach, aber nicht davon ausging, diesen würde jemals industriell Fleisch verfüttert werden. Es handelte sich bloß um eine Spekulation nach dem Motto, was wohl geschehen würde, wenn es “dem Ochsen auf einmal einfiele”, Fleisch zu essen:

“Nun denken Sie sich, diesem Ochsen fiele es auf einmal ein, zu sagen: Das ist mir zu langweilig, daß ich da herumgehen und mir erst diese Pflanzen abbeißen soll. Das kann für mich ein anderes Vieh machen. Ich fresse gleich dieses Vieh! Nun schön, der Ochse würde anfangen Fleisch zu fressen. Aber er kann doch das Fleisch selber erzeugen. Er hat die Kräfte dazu in sich. Was geschieht also, wenn er statt Pflanzen Fleisch direkt frißt? ... Diese Kraft, die bleibt bei ihm, die ist ja da. Die tut etwas anderes in ihm. Und das, was sie tut, das erzeugt in ihm allerlei Unrat.” (Steiner: GA 348, S. 258)

Die Ursache für den Wahnsinn sah Steiner also in einer diffusen “Kraft”, die bei fleischessenden Ochsen ungenutzt bliebe und sich zu dessen Schaden irgendwie verselbstständige und “Unrat”, genauer “namentlich ... Harnsäure und ... Harnsäuresalze” produziere. Schad macht es sich zu einfach, wenn er an diesem oder anderen Beispielen “Treffer” für Steiners hellsichtige “Schau” diagnostiziert. Er macht sich allerdings, das muss auch gesagt werdern, auch keine Illusionen über ausbleibende Effekte mancher Steinerscher Diagnosen:

“Anders verliefen die Versuche, nach Angaben Steiners die Maul- und Klauenseuche beim Rind mit Injektionen von Coffea (Kaffee) zu beherrschen. Sie führten bis heute zu keinem sichtbaren Erfolg. – Ähnlich erfolglos blieben die Versuche der Unkraut- und Mäusebekämpfung durch den von Steiner empfohlenen “Samen- oder Mäusepfeffer”. Mit der Begründung der biologisch-dynamischen Landwirtschaft 1924 durch den ‘Landwirtschaftlichen Kurs’ ist Steiner allerdings Vorreiter der biologischen Landwirtschaft gewesen ...” (Schad, S. 160)

... was zweifelosohne stimmt. Allerdings weist Manfred Klett in seinem Beitrag für Uhlenhoffs Sammelband: “Landwirtschaft und Anthroposophie. Der biologisch-dynamische Landbau”, darauf hin, dass es vor allem gesellschaftliche “Spannungen” und die Industrialisierung der Agrarwirtschaft waren, die (neben traditionellen Vorstellungen vom “Organismus” Landbau) zu Steiners Zeiten zu ökologischen Bestrebungen führten, nicht (nur) ein selbstloser Rekurs auf eine bedrohte Natur (S. 616).

Hadesfahrt

Schad, Hantscher und andere Autoren heben vor allem auf die Inhalte von Steiners “Geistesschau” hervor. Dem steht ein Aufsatz von David Marc Hoffmann gegenüber: “Rudolf Steiners Hadesfahrt und Damaskuserlebnis”, der die weltanschaulichen Kehren Steiners spiegelt – von Goethe über Nietzsche zum Anarchismus und schließlich zur Theosophie/Anthroposophie. Hoffmann schaltet immer wieder methodische Zwischenüberlegungen ein – etwa zur “Deutungshoheit” des Interpreten, oder zum Stellen- und Informationswert von Steiners eigener Autobiographie “Mein Lebensgang” für die Deutung seiner Biographie:

“‘Mein Lebensgang’ wird hier nicht als Quelle für die darin beschriebene Zeit angeführt, sondern allenfalls für die Position und Sichtweise, die Steiner retrospektiv, d.h. zur Abfassung von ‘Mein Lebensgang’ auf sein früheres Leben hatte ... Kein Autor kann gegenüber einem Interpreten die Deutungshoheit über sein eigenes Werk beanspruchen. Der Autor ist Anwalt seiner eigenen Sache ... Nur kann er nicht beanspruchen, zu zeigen, ‘wie es eigentlich gewesen’ ist. Oder besser: Wir als Forschende sind ihm in seiner Selbstdeutung nicht zu folgen verpflichtet, sondern wollen auch diese Selbstdeutung als einen Teil unseres Verständnisses dieses Autors lesen.” (Hoffmann, S. 91)

Das sind, Hoffmann sagt es selbst, “Grundregeln” der Hermeneutik, aber diese wurden in der biographischen Steinerforschung selten eingehalten: AnthroposophInnen ging es um Apologie der Steinerschen Selbstdeutung, KritikerInnen darum, ebendiese zu brechen (dem lag allerdings weniger “bösartige” Motivation zugrunde als vielmehr der verzweifelte Versuch, Aussagen Steiners seinen Epigonenen gegenüber zur Diskussion stellen zu können). Mit Genugtuung lesen sich entsprechend Hoffmanns Darlegungen über Steiners intellektuelle Biographie, die er an Wandel und Kontinuität erkenntnistheoretischer Positionen nachzeichnet. Steiners zündende Erfahrung für seine Wende zur Esoterik, eine Art angebliches “Damaskuserlebnis”, bei dem ihm nach eigener Einschätzung “die christlichen Mysterien auf”gingen, deutet Hoffmann, ähnlich wie vor ihm Janos Darvas, als die (Wieder)entdeckung einer mystischen Erlebnisdimension, die als eine solche nur erfahren werden konnte, weil Steiner als Nietzsche-Anhänger und dezidierter Feind des Christentums derartige Zusammenhänge vorher ausgeblendet habe (S. 112).

“Deshalb sollten anthroposophische und nichtanthroposophische Forscher sich auf die Deutung von Sachverhalten und ihren allfälligen Widersprüchen konzentrieren, anstatt diese Widersprüche entweder harmonisierend zu glätten oder verurteilend anzuklagen. Beides wäre ein Akt der Weltanschauung oder Ideologie, jedenfalls nicht der Hermeneutik.” (S. 119f.)

Die genauen Thesen hier wiederzugeben, würde leider selbst den Rahmen dieses verschwenderisch ausführlichen Blogs sprengen, ich kann nur eine Lektüre empfehlen – und die wärmstens: Hoffmanns Beitrag setzt einen neuen Maßstab in dieser Diskussion! Kritisch anzumerken wäre, dass er Steiners philosophischen Gang von Goethe zu Nietzsche nicht selbst in ihren historischen Kontext setzt: Die beiden wirkten schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts als zwei Pole einer deutschen “Nationalreligion” (Vgl. Myriam Richter; Bernd Hamacher: Germanen, Christen, Juden, Germanisten. Goethe um 1900 – National- und/oder Weltreligion, in: Jahrbuch der Rückert-Gesellschaft, Bd. XVII 2006/2007, S. 234ff.). Und innerhalb derer bewegte sich auch Steiner – mit individuellen Anknüpfungspunkten – in seiner “vortheosophischen” Phase.

Einen Schwerpunktbeitrag zu Steiners Christologie liefert auch Günther Röschert (unter dem Titel: “Die Entstehung der anthroposophischen Christologie”). Die ist in ihren Grundlagen fundiert – da er zu “Kontinuität und Wandel” in Steiners intellektueller Entwicklung bereits früher publiziert hat, müsste es sich hier auch um ein Heimspiel handeln. Aber Röschert versteigt sich leider schließlich in Glaubensfragen, die sich jeder Diskussion entziehen und impertinent-inklusivistisch daher kommen:

“Das reale Wirken des Christus-Impulses in der Menschheit lässt sich aber phänomenologisch abschätzen an der ökumenischen Bewegung und an den verschiedenen interreligiösen Ansätzen. Bis jetzt überwiegt bei christlichen Autoren der interreligiösen Richtung der Gedanke einer Reduktion der Chistozentrik zugunsten einer allgemein-menschlichen Theozentrik. Vom Gesichtspunkt der anthroposophischen Christologie kann es nicht um Reduktion, d.h. um den kleinsten gemeinsamen Nenner in der Welt der Religionen gehen, sondern um die Anerkennung des Christus-Impulses jenseits jeder kirchlichen Dogmatik, ja selbst unabhängig von der theologischen Terminologie.” (Röschert, S. 282)

Das ist vergleichbar mit den Vordenkern des Neohinduismus von Ramakrishna über Tagore bis Aurobindo: Auch die legten großen Wert auf Interreligiosität durch Freilegung suprareligiösen spirituellen Impulses. Dass es sich bei diesem um einen alle Religionen durchdringenden hinduistischen “Impuls” handeln müsse, setzten sie wie selbstverständlich voraus. Christian Grauer hat in seinem kürzlich publizierten autobiographischen Meinungsbeitrag zur anthroposophischen Szene die hermetische Geschlossenheit eines solchen christozentrisch-anthroposophischen Glaubensgerüstes beschrieben:

“In meiner anthroposophischen Überzeugung formte sich die Welt zu einer kompakten, geschlossenen Veranstaltung ... Meine Aufgabe als Mensch war es also, jene geistige Welt wiederzuentdecken, zu welcher wieder aufzusteigen uns Christus die Möglichkeit geschaffen hatte. In dieser Wiederverbindung mit der geistigen Welt begriff ich den Inhalt des Wortes ‘Religion’ in einem tatsächlich konfessionsfreien, überreligiösen Sinne – mit der Einschränkung, dass Christus und das ‘Mysterium von Golgatha’ nicht zur Diskussion standen. Ob einer daran glaubte oder nicht, war für die Mission des Christusereignisses nicht von Bedeutung. Es vollzog sich unabhängig von Religion. Ich machte so mit der Anthroposophie letztlich alle Menschen zu Christen, nur dass die einen davon wussten, die anderen aber nicht. Der diskriminierende Charakter eines solchen Begriffs des Christentums fiel mir nicht auf.” (Christian Grauer: Es gibt keinen Gott, und das bin ich! Anthroposophie im Nadelöhr, Basel 2011, 29)

Es zandert weiter

Es gibt neben Meilensteinen wie den Beiträgen von Hoffmann oder hilfreichen Orientierungen wie bei Robin Schmidt und Christoph Strawe auch seltsame Defizite an Uhlenhoffs Sammelband: Man fragt sich, warum kein Beitrag zu Steiners Eurythmie oder zur anthroposophienahen Kirche der “Christengemeinschaft” enthalten ist. Sollen deutlich “religiöse” Züge der Anthroposophie in diesem angestrebten “Standardwerk” einfach ausgeblendet werden? Das zentrale und ausgesprochen unerwartete Defizit ist dagegen keine Auslassung, sondern eine Überpräsenz. Die Überpräsenz des Religionswissenschaftlers Helmut Zander, inzwischen Professor in Freiburg (Schweiz). Der hat 2007 tatsächlich ein Standardwerk zur Anthroposophie vorgelegt, indem er die Anthroposophie zum ersten Mal vollständig historisch zu kontextualisieren beanspruchte. Sein Buch mit dem Titel “Anthroposophie in Deutschland” liest Steiner im historischen Kontext und zeigt auf 2000 Seiten, warum es Steiner seinerzeit plausibel schien, seine Weltanschauung so und nicht anders zu konzipieren.

Die AutorInnen des Sammelbandes beschäftigen sich nun auf langen Passagen vieler Aufsätze damit, Zanders Untersuchungen zu kritisieren oder scheinbar rückgängig machen zu wollen. Sie beanspruchen zwar meistens selbst, Steiner historisch zu kontextualisieren, aber gewissermaßen “nur ein bisschen”: Die anthroposophische Steinerdeutung soll dabei nicht in Frage gestellt werden. Zanders Buch zieht sich denn auch durch die Fußnoten einiger Beiträge wie deren heimliche Konstruktionsanleitung. Dabei werden berechtigte Punkte ebenso angesprochen wie solche, an denen die historisch-kritische Methode scheitern muss. Die zentrale Kritik im Beitrag von Glöckler/Girke/Matthes etwa, Zander erfasse “die Welt des Lebendigen, Seelischen, Geistigen nicht”, wenn er sich auf kalte historische Dokumente konzentriere, ist zweifellos richtig. Nur ist das auch nicht im Mindesten die Aufgabe eines Historikers, der nunmal nicht mit allerlei “geistigen” Kräften, Engeln und Dämonen, sondern reichlich weltlichen Dokumenten und Quellenrecherchen zu tun hat. Ralf Sonnenberg hat auch aus anthroposophischer Sicht begründet, warum ein historisch-kritischer Zugang zu Steiner unabdingbar ist:

“Wer allerdings die Möglichkeiten des an das Verstandesdenken geknüpften Forschens, Fragens und Deutens geringschätzt, diese nicht soweit wie möglich auszuschöpfen trachtet und stattdessen darauf hinarbeitet, möglichst schnell zu »höheren« Einsichten vorzustoßen, der gleicht einem Heilpraktiker, der die Anwendung schuldmedizinischer Wissensinhalte und Methoden mit der Begründung verschmäht, dass diese auf einer reduktionistischen Wahrnehmung des Menschen aufbauten. Welcher Patient aber würde sich von einem solchen Dilettanten den Blinddarm operieren lassen?” (Vergangenheit, die nicht vergehen will) Der Umgang mit der Anthroposophie verlöre so “an Bodenhaftung. Er gliche dann einem Gebäude, das man von oben nach unten bauen wollte.” (Sonnenberg: Metahistorisches oder zeitunabhängiges Wissen?, in Ders: Anthroposophie und Judentum, 26)

So hinterlassen die meisten versuchten Gegenmodelle zu Zanders historischer Kontextualisierung denn auch einen ziemlich hilflosen Eindruck. Manfred Klett schreibt in seinem Beitrag über die anthroposophische (“biologisch-dynamische”) Landwirtschaft für Uhlenhoffs Sammelband zum Beispiel:

“Da Zander keinen Zugang zu den Inhalten des Landwirtschaftlichen Kurses Steiners hat und diesen auch nicht sucht, ist ihm jedes Mittel recht, das Hervortreten der anthroposophisch orientierten Landwirtschaft aus Bestrebungen herzuleiten, die etwas früher oder zeitgleich aufgetreten sind: die Landkommunen-, Bodenreform-, Ernährungsreform, Siedlungs- und Grünlandbewegung etc. Diese kausale Verortung steht auf dünnstem Eis und legt aufs Neue das Dilemma von Zanders kontextualistisch-historiografischer Beurteilung des biologisch-dynamischen Landbaus offen.” (Manfred Klett, S. 626)

Warum das so sei und worin genau dieses Dilemma liege, begründet Klett nicht. Im Gegenteil, im nächsten Satz schreibt er ganz genau das, was er kurz zuvor noch als “dünnstes” Eis bei Zander diffamierte:

“Es besteht kein Zweifel darüber, dass es im Kleinen – Hofexperimente, Versuchsringe – wie im Großen – die Bewegung des natürlichen Landbaus der 20er- und 30er-Jahre, Konzepte der landwirtschaftlichen Betriebslehre – vielerlei Ansatzpunkte zu einem biologischen Denken und Handeln gab. In dieser Bewusstseinslage standen auch die Pioniere der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise.” (ebd.)

Na also. Klett legt dann aber großen Wert darauf, dass die Vordenker biologischen Landbaus eigentlich gar keine waren, sondern eigentlich bloß eingebunden “in die Ausläufer des über ein Jahrtausend gewachsenen Organismusprinzips in der Landwirtschaft” (ebd., S. 627). Im Grunde spricht Klett also Steiner die Originalität weit mehr ab als Zander, der die biologisch-dynamische Landwirtschaft immerhin für eine Reform-, keine 1000 Jahre alte Tradition hält. Die fast sklavische Bindung mancher Stellen des Sammelbandes an eine selbstgewählte Anti-Zander-Rhetorik läuft aber nicht immer auf Eigentore wie dasjenige Kletts hinaus. Etwa im von mir schon besprochenen Beitrag von Uwe Werner: “Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse”, der anfang diesen Jahres im Voraus veröffentlicht wurde, aber auch in Uhlenhoffs Sammelband erscheint. Er bietet eines der heimlichen Herzstücke dieses Buches und eine fundierte Diskussion auch vieler Quellenrecherchen Zanders, wie ich noch einmal festhalten muss – ganz unabhängig davon, dass ich zum brisanten Thema der Steinerschen Rassenlehre mit Werners Folgerungen keineswegs übereinstimme (vgl. Wichtige Hinweise – falsche Prämissen).

Durchgängig geht die Kritik an Zanders Opus davon aus, der Historiker habe “das alles”, namentlich eine ganze Menge grober Fehler, mit Absicht gemacht, um die Anthroposophie anzuschwärzen, Steiner als “potentiellen Lügner” o.ä. darzustellen – und dann kommen Ausführungen, die das belegen sollen, aber meistens überhaupt nicht Zanders eigentliche Darlegungen streifen. Hier seien nur drei Beispiele genannt – es ließen sich, allein in Uhlenhoffs Sammelband – dutzende weitere hinzugesellen.

I.

Das erste aus dem Aufsatz von Uwe Werner: Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse. Werner beschäftigt sich in seinem absolut lesenswerten Beitrag u.a. mit der Frage, wie viele AnthroposophInnen 1933-1945 in der NSDAP Mitglied waren. Er klärt mit Bezug auf den anthroposophie-kritischen Historiker Peter Staudenmaier auf, dass das nach bisherigem Stand genau 34 Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft betreffe (allerdings keine Anthro-Prominenz). In einer Fußnote moniert Werner, Helmut Zander habe in diesem Punkt dagegen anderslautende, falsche Zahlenmeldungen verbeitet:

“Zander beurteilte 2007 die Anzahl [an NSDAP-Mitgliedschaften in der Anthroposophischen Gesellschaft – AM] als ‘beträchtlich’, nannte aber ihre Höhe nicht. Vgl. Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland, S. 250. In 2009 spricht Zander sich auf die gleiche Quelle beziehend davon, dass die Zahl ‘massiv nach oben zu korrigieren’ sei. Auch da ohne Nennung der bisher recherchierten Anzahl. Vgl. Zander: Rudolf Steiners Rassenlehre, S. 154.” (Uwe Werner: Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse, ebd., S. 759).

Jede dieser Behauptungen ist falsch. Zander bezieht sich 2007 mit dem Wort “beträchtlich” nicht auf die NSDAP-Mitgliedschaften, er schreibt an der von Werner zitierten Stelle sogar: “offenbar gab es fast keine Parteimitglieder unter den Anthroposophen” (Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, S. 250). Er bezieht sich als Quelle für diese Information auf Uwe Werners eigenes Buch von 1999: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus. Zander fügt das von Werner oben zitierte Wort “beträchtlich” in einer Fußnote an (es geht um “Verwandtschaften und Differenzen” mit den Nazis):

“Ich neige dazu, aufgrund der kursorischen Durchsicht anthroposophischer Zeitschriften, die Werner weniger stark ausgewertet hat, das autoritäre und von daher strukturell NS-nahe Potential für beträchtlich zu halten.” (Zander, ebd.)

“Beträchtlich” sei also das inneranthroposophische autoritäre Potential gewesen, nicht besagte Mitgliedschaften. Auch 2009, im zweiten von Werner erwähnten Beitrag, schrieb Zander zunächst keinesfalls, wie Werner behauptet, über eine “massiv nach oben” zu korrigierende NSDAP-Mitgliederzahl in Anthroposophistan. Er bezog sich vielmehr erneut auf Uwe Werners Buch:

“Ich denke an das im Vergleich mit anderen theosophischen Gesellschaften bemerkenswerte Faktum, daß offenbar wenige Anthroposophen Mitglieder der NSDAP waren.” (Zander: Rudolf Steiners Rassenlehre, S. 149).

In einem Anhang zu ebendiesem (2009 publizierten und gerade zitierten) Beitrag führt Zander allerdings aus:

“Das Manuskript wurde im Sommer 2006 abgeschlossen. ... Weitere historische Forschungen betreibt Peter Staudenmaier. lhm zufolge ist eine Information in diesem Aufsatz, die Zahl von Anthroposophen in der NSDAP und in nationalsozialistischen Verbänden (s. den Text zu Anm. 18), massiv nach oben zu korrigieren.” (ebd., S. 154).

Zander bezieht sich also nicht auf “die gleiche Quelle”, sondern auf eine neue, nämlich Peter Staudenmaier. Von dem bezieht aber auch Werner die Zahl der AnthroposophInnen in der NSDAP! Die oben zitierte Aussage Uwe Werners, Zander behaupte mit Berufung auf ein und “dieselbe Quelle” fälschlich immer höhere Zahlen von NSDAP-Anthroposophen, ist von vorne bis hinten falsch – es braucht aber natürlich viel länger, diese Unterstellung zu widerlegen, als es braucht, sie auszusprechen.

II.

Ein anderes Beispiel findet sich im Beitrag des Kunsthistorikers und Steiner-Herausgebers Roland Halfen: “Rudolf Steiner und die bildenden Künste” (auch dieser Beitrag: an sich absolut lesenswert, besonders, weil er die Bedeutung der MitarbeiterInnen Steiners hervorhebt!). Halfen schreibt unter anderem über Steiners Architektur und echauffiert sich berechtigterweise über die Auffassung, charakteristisch für diese sei nichts anderes als eine “abbe-Ecken”-Ästhetik. Halfen:

“Das triviale Motiv der Vermeidung von rechten Winkeln, ganz gleich ob von Analytikern oder Nachahmern bemüht, ist vor diesem Hintergrund eher ein Ausdruck für die Hilflosigkeit im Versuch, Steiners erhaltene Werke auf eine [sic!] kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen.” (Halfen, S. 413)

Das ist eine richtige Anmerkung! “Im Wesentlichen”, führt Halfen weiter aus, sei die jeweils konkrete Formgebung eines von Steiner entworfenen Gebäudes “oder Buchumschlags, Eurythmieplakates usw.” aus dem “Zusammenwirken” seiner

“spezifischen Funktion ... und den Umgebungsbedingungen des Werkes [zu erklären], nicht aber aus der Dominanz jeweils anderer persönlicher Einflüsse aus dem Umkreis Rudolf Steiners, wie es Zander gemäß seiner Grundthese den Lesern nahelegen will. So kann er seine Behauptung, der Stil des zweiten Goetheanum sei aus einer Nachahmung von Bauten der Dornacher Anthroposophenkolonie hervorgegangen (Zander: Anthroposophie in Deutschland, Bd. 2, S. 1063), auch mit keinem konkreten Beispiel belegen.” (ebd.)

Tatsächlich aber differenziert Zander die Deutungen von Steiners Architektur zwischen Kontinuität und Brüchen erheblich. Zu der Metamorphose der Steinerschen Entwürfe von den organisch-fließenden (Erstes Goetheanum) zu stereometrisch-kristallinen Gebäuden (Zweites Goetheanum) schrieb er u.a., Steiner baute das zweite Goetheanum

“unter Verzicht auf einen anthroposophischen ‘Stil’, der im Johannesbau [“erstes” Goetheanum – AM] ausgebildet worden war. Seit 1924 entstand ein neuer Bau mit neuen Bauformen. Aber man muß diesen Neubeginn nicht nur als Traditionsbruch lesen ... Denn damit verdeckt sie die Leistung Steiners, der einen zweiten, eigenständigen Bauentwurf für das Goetheanum geliefert hatte.” (Zander 2007, S. 1164) “Gegenüber den Betonelementen in den älteren Bauten auf dem Dornacher Hügel bedeutete der Bau des Goetheanum eine radikalisierte Auseinandersetzung mit dem neuen Material.” (S. 1166) “Andererseits ist klar, daß mit dem Goetheanum im anthroposophischen Raum etwas Neues entstand, und diese Innovation läßt sich nicht mit den versprengten stereometrischen Motiven aus den Vorkriegsjahren erklären.” (S. 1169 – Hervorhebungen AM).

Keineswegs also behauptete Zander 2007, Steiners zweites Goetheanum sei aus einer “Nachahmung” seiner früheren Bauten entstanden. Im Gegenteil. Und Zander deutete Steiners offensichtliche Anlehnung an Architekturmerkmale des Expressionismus beim “Zweiten Goetheanum” (vgl. Kreative Fundgrube, Abschnitt “Verleugnete Kontexte”), auch nicht als Plagiat, sondern Teilnahme an zeitgenössischen Diskursen:

“Die anthroposophischen Architekten partizipierten an einem kunsttheoretischen Diskurs, den sie kaum steuern konnten, aber mit wachen Augen wahrnahmen. Sie standen mit ihren Bauten zwar nicht in der ersten Reihe der Avantgarde, waren aber ganz nahe am Puls der Zeit.” (ebd., S. 1177)

III.

Das dritte Beispiel stammt von Uhlenhoff selbst, die Zander einmal mehr, aber in blumig-journalistischem Stil, bösartig-animalische Motive unterstellt. Dessen “scheinbares Auftragsprofil” laute, so Uhlenhoff:

“Wühlen Sie nur genug in den Details seiner Vergangenheit und den Fußnoten seiner Werke herum, Sie werden schon einen dunklen Fleck finden, und falls nicht, so werden Sie ihm schon genügend Dreck zur öffentlichen Denunziation andichten ... irgendein Vorwurf bleibt immer hängen.” (Uhlenhoff, Einleitung, S. 23)

Das konkretisiert sie an einem Beispiel:

“Wie ein privater Voyeur oder beruflicher Paparazzo versuchte Zander in Steiners Biographie Liebesaffären mit seinen Mitarbeiterinnen Ita Wegman, Edith Maryon aufzudecken, als gelte es einem prominenten oder Politiker den nächsten Sexskandal anzuhängen. Er kam dann aber zu dem Schluss, dass diese wohl doch platonischer Natur gewesen waren.” (ebd.)

Zunächst: Zander hat diese “Liebesbeziehung” Steiners zur anthroposophischen Ärztin Ita Wegman nicht erfunden noch aus der Luft oder dem “Dreck” gezogen, sondern sie von dem allgemein anerkannten Ita-Wegman-Biographen Immanuel Zeylmans van Emmichoven übernommen. Der dokumentiert in seiner Wegman-Biographie Liebesbriefe und -gedichte Steiners an und für Wegman, teilweise sogar Faksimiles mit der entsprechenden Originalhandschrift – und wird in Uhlenhoffs Sammelband für diese Arbeit sogar lobend erwähnt (im Beitrag von Michaela Glöckler, Matthias Girke, Harald Matthes: Anthroposophische Medizin und ihr integratives Paradigma, S. 581). Warum also stürzt Uhlenhoff sich nicht auf ihn, statt auf Zander? Beziehungsweise: warum sich deshalb überhaupt auf jemanden stürzen?

Denn warum eine Liebesbeziehung rufschädigend, gar biographischer “Dreck” sein soll, der “zur öffentlichen Denunziation” (Uhlenhoff) dienen kann, ist mir schleierhaft und allenfalls durch eine prüde anthroposophische Sexualmoral erklärbar. Wie ich an anderer Stelle geschrieben habe (Vgl. “Es einet die Herzen das Karma” – Wichtige Frauen in Rudolf Steiners Leben, in: info3 07-08/2011, S. 42-50), treffen sich AnthroposophInnen in der Konstruktion Steiners als keuschem, asexuellem Heiligen, mit denjenigen unter ihren GegnerInnen, die Steiner ebenfalls für asexuell halten, darin aber die pathologische Verkümmerung eines Humanums sehen. Wie anders aber als asexuell-heilig oder frigide-pathologisch lesen sich Rudolf Steiners Liebesbriefe an Ita Wegman:

“Du schreibst: ‚Wirst du mich jetzt für immer lieben bleiben?’. Meine liebe Mysa [so Steiners “mystischer” Name für Wegman – AM]: Diese Liebe ruht auf einem unerschütterlichen Fels ... Ich konnte zu keinem Menschen so stehen wie zu Dir. Du lernst mich noch ganz anders kennen als andere Menschen mich gekannt haben ... das hängt doch damit zusammen, dass ich nur in vollem Eins-Sein mit dir leben möchte. Du bist mir doch so nahe, so nahe in allem. Da tut oft schon der Schein der Ferne weh. Doch Du machst ja auch wieder alles gut. Viele Liebe liegt in deinem Pfingstbriefe ... Die geistigen Mächte, deren Ausdruck die Anthroposophie ist, sehen wohlwollend, liebend, wie ich mich stütze nunmehr auf die Liebe, die ich hege zu Deiner von mir so hoch geschätzten Seele. Und die ist mir die stärkste Stütze. Ich möchte gerne weiterschreiben. Doch bald wird das Auto zum Abendvortrag vorfahren, das von hier nach Breslau fast eine Stunde braucht. Allerherzlichste Gedanken ganz Dein Rudolf Steiner” (Brief vom 11. Juni 1924). “Ich habe mittlerweile von Dir wieder zwei Briefe erhalten, für die ich mich herzlich bedanke ... Ja, sehr schön wäre es, wenn ich Dich hier haben könnte, aber – zum wievielten Male muss ich auch mich ermahnen – wir müssen uns in das Notwendige fügen. Mit der Gesundheit werde ich durchhalten. Aber sage nichts von dem Zusammenhang mit dir, meine allerliebste Mysa. So ist das ja doch nicht. Da waltet Karma, und eines, das ich wahrlich nicht anders haben möchte. Allerherzlichste Gedanken, Dein Rudolf Steiner” (Brief vom 12. Juni, beides zitiert nach Emanuel Zeylmans van Emmichoven: Wer war Ita Wegman? (1990), Dornach 2004, Bd I, S. 207 bzw. 209)

Das ist weit bewegter und bewegender, als die anthroposophische Dogmatik erlaubt. Ich sehe keinen Grund, solche Äußerungen Steiners als “Dreck” zu verschleiern, sondern halte nur durch ihre Gegenwärtigung einen authentischen Blick auf Steiner für möglich.

“Anlass, Ansatz, Ausblicke”?

Die Liste der aus den Fingern gesaugten Kritiken der Zanderschen Anthroposophiedeutung ließe sich, wie gesagt, beliebig fortsetzen, ob an Beispielen aus diesem oder anderen Publikationen. Man denke etwa an Lorenzo Ravaglis schlecht gearbeitetes und bloß noch anstrengend polemisches Elaborat “Zanders Erzählungen” (vgl. Leitmotiv Zertrümmerung), auf das Uhlenhoff und Wolfgang Schad (in seinem Beitrag: Rudolf Steiners Verhältnis zur Naturwissenschaft, S. 171) auch noch positiv Bezug nehmen – wobei Schad gleichzeitig Ravaglis Vereinfachung der Goetheschen Typenlehre kritisiert (S. 170). Auch Uhlenhoff merkt immerhin an, es sei “schade”, dass Ravagli Zanders “mitunter auch berechtigte Hinweise zur Selbstkritik an der anthroposophische [sic!] Gesellschaftsgeschichte nicht auch aufgreift” (S. 34). Sie greift diese “Hinweise zur Kritik” allerdings selbst kaum auf. “Das kritische Verhalten erschöpft sich im andächtigen Deuten auf den Appell, nichts unkritisch hinzunehmen.” (Taja Gut: Wie hast du’s mit der Anthroposophie?, Dornach 2010, S. 22).

Die Konsequenzen sind allgemein tragisch und im Einzelfall hinderlich: Uhlenhoff verspielt fast das gesamte Vorwort des Sammelbandes auf diese Weise. Dort wäre doch vielmehr eine inhaltliche Einführung und Gesamtsituierung angebracht, die sie in eindrücklicher Sprache und mit zielsicheren Beobachtungen auch liefert – aber nur auf sieben der insgesamt 43 Seiten ihres Textes (unter der Überschrift: “Anlass”, S. 9-12″ und “Ausblick”, S. 49-51). Der Rest ihrer Einleitung in den Sammelband stellt eine einzige, überraschend gehässige Zander-Geißelung dar, in der zunächst “auf die mutige Zandersche Pionierleistung” hingewiesen wird (S. 31) um diese anschließend um so heftiger zu diffamieren. Sie nennt allerdings nur zwei Zitatfehler aus Zanders 2000-seitigem Buch (S. 25, Fußnote), die diese Vorbehalte nicht ansatzweise rechtfertigen können. Uhlenhoffs Beitrag fällt damit (leider!) weit hinter eine auch inneranthroposophisch längst erreichte Diskussionshöhe zurück (vgl. Ralf Sonnenberg oder Anna-Katharina Dehmelt). Er wirft, gerade, weil er als “Einleitung zu Anlass, Ansatz, Aussagen und Ausblick des Sammelbandes” daher kommt, ein fahles Licht auf ebendiesen Anlass, Ansatz, auf die Aussagen und Ausblicke. Das ist bedauerlich, da gerade Uhlenhoff selbst früher die Hoffnung auf eine anthroposophische “Wissenschaftsrevolution im Sinne Thomas S. Kuhns” in puncto “Rezeptionsoffenheit und Innovationsfreude”, “Gemeinschaftsbildung und Wissenschaftspolitik” (so Uhlenhoff: Die Annales-Historiker. Exoterische Wegbereiter der Esoterikforschung, in: Karl-Martin Dietz: Esoterik verstehen. Anthroposophische und akademische Esoterikforschung, Stuttgart 2008, 162) artikulierte. Es bleibt ihr und ihrem Anliegen zu wünschen, dass sie sich dem in zukünftigen Beiträgen wieder widmet, es wäre nur von Vorteil.

Dreigliederung oder: Historizität und Freiheit

Wieso stilisiert man eine Figur auf diese Art inkorrekterweise zum Gegner und drischt dann auf fiktive Argumente ein? Das ist hier jedenfalls in einem Maße der Fall, dass es kaum Zufall sein kann. Zumindest von Uwe Werner, den ich als Diskussionspartner kenne und außerordentlich schätze, bin ich mir sicher, dass es keine “denunziatorische Absicht” ist, und ich habe auch keinen Grund, dies für andere AutorInnen dieses Sammelbandes anzunehmen. Dennoch liegt die Frage auf der Hand, welches (sozialpsychologische?) Muster zu diesem frappant uniformen Verhalten führt – und dabei gibt es durchaus zentrale Irrtümer und Leerstellen in Zanders Untersuchung, die von den anthroposophischen KritikerInnen Zanders aufgegriffen werden könnten, aber jeweils nur in homöopathischen Dosen geliefert werden (eine Ausnahme sind die Kritikpunkte im Beitrag von Christoph Strawe: Sozialimpulse. Zu Entstehungsbedingungen und Wirkungsgeschichte des Arbeitsansatzes der Dreigliederung des sozialen Organismus, S. 690-696).

Ein Beispiel sei hier genannt, um daran auch zu demonstrieren, dass und wie man nur durch die konsequente Historisierung von Steiners Entwürfen auch seine Leistungen gegenüber diesem historischen Umfeld würdigen kann: Steiners politische Utopie der “Dreigliederung des Sozialen Organismus”, die der Esoteriker nach dem Ersten Weltkrieg als Entwurf für eine politische, ökonomische und gesellschaftliche Neuordnung ins Spiel bringen wollte. Im vorliegenden Band versucht Christoph Strawe, sie in einer Linie mit Montesquieus “Forderung nach Entflechtung der gesellschaftlichen Strukturen im Ringen um die Eindämmung zentralistisch-hierarchischer Macht” anzusiedeln (ebd., 658). Roland Benedikter, Stiftungsprofessor für Politik- und Kultursoziologie an der University of California (Santa Barbara), versteht sie als eine Theorie der funktionalen Gliederung der Gesellschaft – etwa analog zu Weber oder Durkheim, die in der Ausdifferenzierung und eigenlogischen Funktionsweise verschiedener sozialer Bereiche das Charakteristikum der “Moderne” sahen (vgl. Roland Benedikter, Interview, in: Sozialimpulse 1/11, S. 24). Helmut Zander wiederum vermutete, Steiner sei biographisch angeregt worden: Seine Idee des “Freies Geisteslebens”, das die parallele Existenz verschiedener “Nationalitäten”, also Kulturen, in einem staatlichen “Organismus” einschließen sollte, stamme aus der Vielvölkerpolitik des Habsburger Reichs, in dessen Hauptstadt Wien Steiner seine politische Sozialisation durchlief.

Ich halte alle drei Tendenzen zwar nicht für falsch, würde aber vorschlagen, den Blick von dort weg und einmal mehr auf die von AnthroposophInnen so ungern gegenwärtigte Theosophie lenken, genauer: Auf den französischen Okkultisten Edouard Schuré, der zugleich inhaltliche Inspiration und meditativer “Schüler” Steiners war. Schuré schrieb in seinem Buch “Die großen Eingeweihten” in den 1880ern zwar nicht über zukünftige politische Ordnungen. Aber er postulierte, die großen Mysterienpriester und “Eingeweihten” untergegangener Kulturen hätten ein dreigliedriges System regiert:

“Eine dreifache und schiedsrichterliche Regierung, die sich aus drei Kräften zusammensetzt, der ökonomischen, richterlichen und religiösen oder wissenschaftlichen, trat zu allen Zeiten als Folge der Lehre von Eingeweihten auf und machte einen wesentlichen Teil der Religion des alten Zyklus vor Griechenland aus.” (Edouard Schuré: Die großen Eingeweihten, Grafing 2010, übersetzt v. Dr. Edith Zorn, S. 457)

Schuré beruft sich im Anschluss auf Yves d’Alveydre, den Schüler und Plagiator des französischen Okkultisten Antoine Fabre d’Olivet (vgl. zu Fabre d’Olivet meinen Artikel Licht mehr Licht ab der Überschrift “Esoterischer Rassismus”). Schuré:

“Dieser eigenständige Gedanke des M. Saint-Yves ist durchaus beachtenswert. Er nennt es Synarchie oder Regierung aufgrund von Prinzipien. Hierin sieht er das soziale, organische Gesetz, die einzige Hoffnung für das Heil der Zukunft. Es ist hier nicht der Ort, um nachzuprüfen, inwieweit der Autor seine These historisch nachvollzogen hat. M. Saint-Yves liebte es nicht, die Quellen, aus denen er seine Informationen schöpft, anzugeben.” (ebd., 457)

Schurés Schilderung der synarchistischen Dreiteilung der Regierung in je einen “ökonomischen, richterlichen und religiösen oder wissenschaftlichen”, passt auch exakt auf Steiners Entwurf der Sozialen Dreigliederung. Die Synarchie freilich trat über verschiedene Jahrzehnte und in verschiedenen Zusammenhängen sehr heterogen auf (vgl. den englischen Wikipedia-Artikel).

AnthroposophInnen haben auf die synarchistische Bewegung auffallend selten reagiert (etwa Heinz Kloss), die jüngsten Bezugnahmen tauchen in scheinbar rechtsgerichteten, fragwürdig-verschwörungstheoretischen Zusammenhängen und keineswegs mit positiver Wertung auf (Meyer: Die Zertrümmerung Mitteleuropas, vgl. dazu kritisch meinen Artikel “Der Europäer”). Dabei gehen die Parallelen zur Dreigliederungstheorie bis in die anthropologische Begründung hinein: Yves d’Alveydre behauptete eine Gliederung des Menschen in die drei Systeme: “Ernährung”, “Leben” und “Denken”. Um die optimale Aufrechterhaltung dieser menschlichen Grundvermögen zu gewährleisten, müsse die Regierung analog gegliedert werden in 1. das “wirtschaftliche Leben” (für “die Ernährung”), 2. die Gesetzgebung und Rechtsprechung (zum Erhalt des Lebens), 3. die “Richtungsweisende Staatsmacht”, die das Denken der Menschen leiten müsse. Hier wäre dann der politische Ort für “die Eingeweihten” angesiedelt. Bei Steiner werden ebenfalls drei Systeme des menschlichen Organismus postuliert und der Dreigliederung zugrunde gelegt: das Stoffwechsel-, Rhythmische und Kopfsystem. Und auch bei Steiner resultieren daraus drei “soziale” Glieder: “Wirtschaftsleben”, “Rechtsleben” und “Geistesleben” (das aber nicht dem Kopf-, sondern dem Stoffwechselsystem zugeordnet wird). Ein Zusammenhang zwischen Dreigliederung und Synarchie liegt auf der Hand, und tatsächlich: Steiner war nicht nur D’Alveydres Schüler Papus ein Begriff, er kannte auch die synarchistische Theorie (vgl. die unbelegte Behauptung bei dem tragischen und gern verschwiegenen Pionier der Esoterikforschung James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen (1976), Wiesbaden 2008, übersetzt von Marco Frenchkowski, 337f. – Steiner hatte allerdings auch einschlägige Literatur in seiner Bibliothek, wie ich bei einem inzwischen zur unvorteilhaften Legende gewordenen Dornachbesuch feststellen konnte).

So weit die Kontinuitäten. Es ist aufschlussreich, dass die Dreigliederung in ihrer formalen Struktur aus einer fragwürdigen esoterischen Tradition, weniger tagesaktuellen Ereignissen stammte! Es gibt aber auch entscheidende Unterschiede – und nur durch deren Absetzung von diesem historischen Entstehungszusammenhang wird das originär “Anthroposophische” an der Dreigliederungsidee ersichtlich. Anstelle der synarchistischen “richtunggebenden Staatsmacht” tritt bei Steiner das “Freie Geistesleben”:

“Vom selbständigen Geistesleben muss etwas ausstrahlen, was bis in den Kapitalismus, was in den ganzen Organismus hineinflutet. Das ist das freie menschliche Entwickeln, das ist das liberale Element. In dem politischen Staate, im Rechtsleben, muß etwas leben, worinnen alle Menschen gleich sind. Das ist das demokratische Element. Und im Wirtschaftsleben muß das brüderliche Element walten. Das muß die wahre Grundlage einer sozialen Struktur abgeben. ... man sollte durchschauen, wie im selbständigen Geistesleben wächst der alles übrige soziale Leben überleuchtende Liberalismus; wie im wirklichen Rechtsstaat wächst die wiederum alles übrige Leben überleuchtende Demokratie, wie in jenem Wirtschafsleben, das sich nur mit Warenerzeugung, Warenzirkulation, Warenkonsum und der dadurch bedingten Feststellung der gerechten Preise befaßt, der wiederum alles durchdringende Sozialismus waltet.” (GA 329, S. 219 – dem muss allerdings sogleich hinzu gefügt werden: Es wäre wiederum blind, naiv und historisch unverantwortlich, damit die antidemokratischen und elitären Äußerungen Steiners und fast aller seiner frühen AnhängerInnen vertuschen zu wollen, vgl. Peter Staudenmaier)

Steiner war einer der wenigen Esoteriker seiner Zeit, die sich tatsächlich eine Weile realpolitisch engagierten. Er löste sich damit vom okkulten Untergrund des untergegangenen Kaiserreichs ebenso ab, wie er sich mit seiner Aufnahme der “Freiheit” als eines “geistigen Liberalismus” in sein politisches Programm von der durch und durch autoritären Dreigliederungskonzeption der Synarchie ablöste – und abhob. Und nur eine kritische Historisierung macht eine Ablösung von Steiners Ansprüchen auf Deutungshoheit für eine wirklich “freie” Anthroposophie möglich. Steiner “ist rapide dabei, als historische Person in eine immer fernere Vergangenheit entrückt zu werden. Das verringert unser Wissen über ihn, erweitert aber die Freiheit, sein Leben und sein Werk zu deuten.” (Zander: Rudolf Steiner, 470). Als Beispiel dafür sei der oben erwähnte Roland Benedikter zitiert, der eine Erweiterung der “Dreigliederung” zu einem Sechs-Sphären-Modell vorschlägt:

“Es stehen große Umbrüche für die demokratischen Gesellschaften des ‘Westens’ bevor. Sie beginnen bereits heute, in einer globalen Systemverschiebung Gestalt anzunehmen. Dazu gehören 1. das Ende des Neoliberalismus im System- und Diskursbereich der Wirtschaft, 2. das Ende der – von den USA nach dem Ende des ‘Kalten Krieges’ einseitig ausgerufenen ‘neuen Weltordnung’ im Bereich der Politik, 3. das Ende der Postmoderne im Bereich der Kultur, 4. die ‘Rennaissance der Religionen’ im Bereich der Spiritualität. Dazu gehören aber auch – in vielerlei Hinsicht als Summe dieser vier Tendenzen – das Auftreten von miteinander im Wettbewerb stehenden, kulturell unterschiedlichen Modernitäts- und Modernisierungskonzepten (‘competing modernities’). Das begründet einen neuen, globalen Antagonismus zwischen demokratischen und nicht-demokratischen Modellen von Moderne, einschließlich finanzieller Moderne und Handhabe von Kapital und Selbstinterpretation des Kapitalismus. Dazu kommen 5. technologische und 6. demographische Umbrüche. ... damals [1919, als Steiner seine Dreigliederungstheorie konzipierte – AM] reichte Dreidimensionalität im Wesentlichen aus, um die dynamische Strukturentwicklung zu erfassen und zu analysieren. Heute ist die Welt aus den damaligen Wurzeln heraus ausdifferenzierter und multidimensionaler geworden.” (Benedikter, ebd., 23f.)

Das gilt nicht nur für die anthroposophische Dreigliederung, sondern auch für sämtliche anderen Praxisfelder – und für die Wissenschaftstheorie allemal (hier ist z.B. auf die Dissertation Merle Ranfts zu hoffen), sonst bleibt die Anthroposophie Nischensegment. Der Sammelband “Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart” liefert gute historische Schlaglichter. Er zeigt aber auch ex negativo (an der fast sklavischen Abhängigkeit von Helmut Zanders Opus, bzw. an der notorischen Widerlegungsabsicht), wie stark Selbstbezogenheit und apologetische Absichten gegenüber einer “Hegemonialkultur” bis heute das anthroposophische Selbstverständnis zu bestimmen scheinen. Für AnthroposophiekritikerInnen scheint mir das Buch nichtsdestominder als ein anthroposophieimmanenter Versuch lesenswert, Steiner immerhin ein Stück weit zu historisieren, damit andererseits einen Umgang mit seiner “Fehlbarkeit” zu finden und so eine allmähliche Säkularisierung einzuleiten. Wenn Uhlenhoffs Beitrag als Auskristallisation oder Momentaufnahme eines solchen Prozesses zu betrachten ist, darf man auf weitere Entwicklungen durchaus hoffen!’
Het blijft ongelooflijk wat deze Ansgar Martins allemaal ‘sachkundig’ te berde weet te brengen, met uitermate ter zake doende literatuurverwijzingen. Door zijn verwijzing naar het artikel van Anna-Katharina Dehmelt in ‘Forum Anthroposophie’ van het aprilnummer 2008 van ‘Die Drei’ kan ik hier nu ook haar Vom sinnvollen Umgang mit Helmut Zanders Quellenfunden’ laten volgen. Tot nog toe had ik haar alleen nog in ‘Verborgen wetenschap’ op 23 oktober 2010 aan het woord gelaten, maar dat zal in de toekomst vast nog wel vaker gebeuren. Op het einde van het artikel staan nog wat persoonlijke gegevens over haar. Over deskundigheid gesproken! (Ik ben trouwens benieuwd of haar bevindingen inzake Steiners Atlantis-bronnen ook in de tweede druk van ‘De Akashakroniek’ terecht zijn gekomen, die nu bij Uitgeverij Pentagon voor november aangekondigd staat.)
‘Über Helmut Zanders 1800-Seiten-Werk Anthroposophie in Deutschland ist viel geschrieben worden. Von anthroposophischer Seite wurde seine Arbeit überwiegend abgelehnt.(1) Der Hauptgrund dafür dürfte seine Weigerung sein, Anthroposophie aus sich heraus zu verstehen. Er möchte eine Außenperspektive einnehmen, aus der er sich auf historische Fakten stützt und nicht auf Erklärungsweisen der Anthroposophie aus Anthroposophie selbst heraus.(2) Folgerichtig sind die Ergebnisse geistiger Forschung für Zander nichts, was vor seinem Historikerblick aus sich heraus Gültigkeit haben könnte. Das Werk Rudolf Steiners wird ihm so entweder zum Plagiat aus Quellen, die Rudolf Steiner vorgelegen haben oder vorgelegen haben könnten, oder zur Erfindung, deren Wirklichkeitsgehalt für Zander zumindest offen bleiben muss. Auch Seine weiteren Schlussfolgerungen aus seinen Funden sind fragwürdig. Da er den Selbstzeugnissen Steiners nicht traut, wird Steiners schöpferische Potenz auf Macht- und Karrierestreben reduziert. Überhaupt geht bei Zander Individualität und geistige Leistung Rudolf Steiners in Umweltbedingungen und -einflüssen fast restlos unter. Die Weigerung Zanders, sich auf die Anthroposophie um ihrer selbst willen einzulassen, verbunden mit seinem angriffslustigen Schreibstil, machen die Lektüre seines Buches für Menschen, die mit der Anthroposophie verbunden sind, schwierig bis unerträglich.

In den Feuilletons der großen deutschen Zeitungen ist Zanders Arbeit hingegen überwiegend positiv aufgenommen worden. Der Versuch einer historischen Verortung der Anthroposophie wurde auch da begrüßt, wo Zanders Defizite im Verständnis der Anthroposophie durchaus gesehen werden.(3) Offensichtlich gibt es in der intellektuellen Öffentlichkeit ein Bedürfnis nach historischer Verortung der Anthroposophie, würde sie dem akademischen Publikum doch eine Auseinandersetzung mit ihr ermöglichen, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, einer Weltanschauungsgemeinschaft beigetreten zu sein.

Zanders Anliegen werden die Feuilletons weit besser gerecht als die Kritiken von anthroposophischer Seite. Denn es ist gar nicht seine Absicht, Anthroposophie aus sich heraus zu verstehen. Wiederholt betont er, über den geistigen Gehalt von Steiners Werk nicht urteilen zu wollen.(4) Zanders Anliegen ist es, Material für eine historische Einordnung zusammenzutragen und es einer ersten Interpretation zu unterwerfen.(5) Ihm ist wohl im Verlauf seiner Arbeit selbst klar geworden, auf wie dünnem Boden seine ohne wirkliches Verständnis gezogenen Schlussfolgerungen stehen, denn im Nachwort gesteht er mangelndes Verständnis ein und wünscht sich, dass von anthroposophischer Seite mit seinen Funden weitergearbeitet werde. In diesem Sinne, als Materialsammlung, ist seine Arbeit durchaus von Wert und kann unter dieser Perspektive auch für Menschen, die mit Anthroposophie verbunden sind, interessant sein.

Liest man Zanders Buch unter diesem Blickwinkel, so stößt man auf eine große Fülle an Informationen über Rudolf Steiners soziales und geistiges Umfeld. Man findet beispielsweise das Dramenschaffen zur Zeit der Entstehung der Mysteriendramen dargestellt, man wird bekannt gemacht mit den künstlerischen Bestrebungen in der Architektur oder den Bewegungskünsten (bis hin zur Wiederentdeckung der eurythmischen Ton-Laut-Konkordanzen bei J.M. Hauer), oder es werden Bestrebungen zur Gründung von Religionsgemeinschaften vorgestellt.(6) Zwar ist vieles davon nicht neu, aber in dieser Dichte andernorts nicht leicht aufzufinden.

Am interessantesten dürften Zanders Funde aus dem theosophischen und okkultistischen Umfeld Rudolf Steiners sein. Man erfährt, wie man um die Jahrhundertwende über die Rosenkreuzer dachte(7) oder wie ein freimaurerisches Ritual ausgestaltet war.(8) Zander hat vieles über theosophische Lehrinhalte zusammengetragen,(9) gipfelnd in der Zusammenstellung einer virtuellen Bibliothek, in der verzeichnet ist, welche theosophische Literatur Rudolf Steiner nachweislich gekannt hat.(10)

Auch wenn man Zanders Schlussfolgerungen aus seinen Funden nicht teilt, so zeigen sie doch, wie sehr Rudolf Steiner in seinen Fragestellungen und Bestrebungen an den Fragestellungen und Bestrebungen seiner Zeit und seines Umfeldes teilnahm. Würde man dieses Material – gestützt auf ein wirkliches Verständnis der Anthroposophie – nach und nach aufarbeiten, so würden daran die äußeren Entstehungsbedingungen der Anthroposophie ersichtlich. Nach hundert Jahren wird es für die weitere Pflege der Anthroposophie förderlich sein, ihre historischen Entstehungsbedingungen kennenzulernen und verwandelnd abzustreifen, ohne dabei ihr Wesen preiszugeben – so wie man auch die Lebensbedingungen einer vergangenen Inkarnation abstreift, ohne sich dabei zu verlieren. Die Entstehungsbedingungen, die mit dem Wachsen der Anthroposophie innerhalb der Theosophischen Gesellschaft einhergehen, sind noch weitgehend unbekannt. Gerade dafür stellt Zander reichhaltiges Material bereit.

Die Fahrzeuge der Atlantier

Es sei nun beispielhaft einem Fund Zanders, den er übrigens J.W. Hauer aus dem Jahre 1922 verdankt, nachgegangen, weil er in überschaubarer Weise Rudolf Steiners Umgang mit der vorliegenden theosophischen Literatur erhellen kann.(11)

In dem 1904 in der Zeitschrift Luzifer-Gnosis erschienenen Aufsatz »Unsere atlantischen Vorfahren« von Rudolf Steiner findet sich folgende Passage: »So wurden die in geringer Höhe über dem Boden schwebenden Fahrzeuge der Atlantier fortbewegt. Diese Fahrzeuge fuhren in einer Höhe, die geringer war als die Höhe der Gebirge der atlantischen Zeit, und sie hatten Steuervorrichtungen, durch die sie sich über diese Gebirge erheben konnten ... Die genannten Fahrzeuge der Atlantier wären in unserer Zeit ganz unbrauchbar. Ihre Verwendbarkeit beruhte darauf, dass in dieser Zeit die Lufthülle, welche die Erde umschließt, viel dichter war als gegenwärtig.«(12)

In William Scott-Eliotts 1896 erschienener Schrift Atlantis nach okkulten Quellen findet sich nach ausführlichen Schilderungen von Bauweise und maschinellen Vorrichtungen der atlantischen Luftfahrzeuge diese Passage: »Die Flughöhe belief sich nur auf einige 100 Fuß, so dass, wenn hohe Berge in der Fluglinie lagen, die Richtung gewechselt und der Berg umfahren werden musste, – die verdünntere Luft leistete nicht länger die nötige Stütze. Hügel von etwa 1000 Fuß Höhe waren das Höchste, was überfahren werden konnte.«(13) Die Ähnlichkeiten springen ins Auge. Bezüglich der Um- bzw. Überfahrung der Gebirge sieht Zander einen Unterschied zwischen Scott-Elliot und Steiner, für dessen Erklärung er sich nach dem Stand der Flugtechnik und ihrer Veränderung zwischen 1896 und 1904 erkundigt hat. Er stellt fest, dass in der bei Steiner dargestellten Möglichkeit, höhere Berge zu überfliegen, sich genau der Fortschritt von ballonartigen Luftschiffen zu lenkbaren Motorflugzeugen mit Flügeln widerspiegelt. Ballonfahrzeuge sind in der Höhe durch die abnehmende Dichte der Luft begrenzt; Flügelfahrzeuge können dieses Problem bis in weit größere Höhen überwinden.

Man ist zunächst einmal frappiert von diesem Fund, lässt sich doch der Zusammenhang zwischen Steiner und Scott-Elliot nicht von der Hand weisen. Womit hat man es hier zu tun? Hat Rudolf Steiner abgeschrieben und nicht genau aufgepasst, so dass ihm einige Veränderungen unterliefen? Hat Rudolf Steiner selbständig geforscht, ist zu ähnlichen Ergebnissen wie Scott-Elliot gekommen, und die Parallelität mit der Flugtechnik-Entwicklung ist reiner Zufall? Wie sonst lassen sich Zusammenhang und Unterschied erklären?

Schauen wir etwas genauer, wie sich Rudolf Steiners Aufsatz zu dem Büchlein von Scott-Elliot verhält. Es handelt sich bei Steiners Aufsatz um seine erste schriftliche Äußerung zu dieser Thematik, und er gibt selbst, was auch Zander nicht verschweigt, Scott-Elliot als Quelle an: Vieles über Atlantis »kann der Leser in dem Büchlein Atlantis, nach okkulten Quellen von W. Scott-Elliot nachlesen. Hier sollen Mitteilungen gegeben werden über diese uralte Kultur, welche Ergänzungen bilden zu dem in jenem Buche Gesagten. Während dort mehr die Außenseite, die äußeren Vorgänge bei diesen unseren atlantischen Vorfahren geschildert werden, soll hier einiges verzeichnet werden über ihren seelischen Charakter und über die innere Natur der Verhältnisse, unter denen sie lebten.«(14)

Steiners damalige Leser dürften Scott-Elliots Buch gekannt haben. Nach der Lektüre von Steiners Aufsatz waren sie sich sicher, dass Steiner von genau derselben Atlantis spricht wie Scott-Elliot: Es gab sieben aufeinander folgende Völker mit bestimmten Namen, bestimmten gesellschaftlichen Formen und kulturellen Errungenschaften; diese Völker hatten noch kein Denkvermögen und begannen erst in der fünften Epoche allmählich, dieses auszubilden; Atlantis war untergegangen durch eine Flutkatastrophe in Folge des Missbrauchs der Beherrschung von Naturkräften. Dem damaligen Leser dürfte auch aufgefallen sein, dass Rudolf Steiners Schilderungen weit weniger detailliert sind. Die marginalen Abweichungen von Scott-Elliot in den Details dürften hingegen kaum aufgefallen sein, kennzeichnet sie doch Steiner wie bei den Luftfahrzeugen nicht ausdrücklich. Außerdem dürfte dem Leser aufgefallen sein, wie stark Steiner gleich im ersten Satz betont, dass die Atlantis völlig verschieden von der heutigen Kultur war. Bei Scott-Elliot hatte ihn doch vieles an die eigene Gegenwart erinnert, angefangen von der republikanischen Staatsform über den Übergang von Elementar-zu Hochschulen bis hin zu detailliert beschriebenen Kolonisationen. Insbesondere aber dürfte dem damaligen Leser aufgefallen sein, dass Steiner einen völlig neuen Begriff einführt: »Der logische Verstand ... fehlte den ersten Atlantiern ganz. Dafür hatten sie ein hochentwickeltes Gedächtnis.«(15) Bei Scott-Elliot war nur ganz allgemein von »psychischen Fähigkeiten« die Rede gewesen, die er, ebenso diffus, mit Bulwer-Lyttons »Vril« und dem Keely-Motor in Verbindung brachte.(16)

Wie es funktionieren konnte

Das hochentwickelte Gedächtnis wird nun in Steiners Aufsatz zum Schlüssel, aus dem die ganze atlantische Kultur herausentwickelt und dadurch erst verständlich wird. Bei Scott-Elliot handelt es sich um recht zusammenhanglose Einzelheiten; bei Steiner kommt Zusammenhang in die Details, sie werden erklärbar als Erscheinungsformen einer Kultur, die auf das Gedächtnis gebaut ist. Gemeineigentum, Ahnenkult und Erbfolge der Atlantier werden ebenso verständlich wie die parallel zur zunehmenden Denkkraft zunehmende Gesetzes- und Regeltreue.(17) Insbesondere aber kann Steiner die Beherrschung der Lebens- und Naturkräfte erhellen: »Mit dem Wesen der einen menschlichen Kraft hängen immer andere zusammen. Das Gedächtnis steht der tieferen Naturgrundlage des Menschen näher als die Verstandeskraft, und mit ihm im Zusammenhange waren andere Kräfte entwickelt, die auch noch denjenigen untergeordneter Naturwesen ähnlicher waren als die gegenwärtigen menschlichen Betriebskräfte. So konnten die Atlantier das beherrschen, was man Lebenskraft nennt.« Sie konnten das nicht nur bei sich selbst, sondern auch mit der Lebenskraft anderer Lebewesen, insbesondere von Pflanzen. »Man denke an ein Getreidesamenkorn. In diesem schlummert eine Kraft. Diese Kraft bewirkt ja, dass aus dem Samenkorn der Halm hervorsprießt. Die Natur kann diese im Korn ruhende Kraft wecken. Der gegenwärtige Mensch kann es nicht willkürlich. Er muss das Korn in die Erde senken und das Aufwecken den Naturkräften überlassen. Der Atlantier konnte noch etwas anderes. Er wusste, wie man es macht, um die Kraft eines Kornhaufens in technische Kraft umzuwandeln, wie der gegenwärtige Mensch die Wärmekraft eines Steinkohlenhaufens in eine solche Kraft umzuwandeln vermag.« Damit ist zwar keine Anleitung zur Beherrschung der Lebenskraft gegeben, aber doch ein Brücke für das Verständnis gebaut. Und so kann Steiner auch erklären, wie die atlantischen Luftfahrzeuge angetrieben wurden: »Wie wir Vorrichtungen haben, um die in den Steinkohlen schlummernde Kraft in unseren Lokomotiven in Bewegungskraft umzubilden, so hatten die Atlantier Vorrichtungen, die sie – sozusagen – mit Pflanzensamen heizten, und in denen sich die Lebenskraft in technisch verwertbare Kraft umwandelte. So wurden die in geringer Höhe über dem Boden schwebenden Fahrzeuge der Atlantier fortbewegt.«(18)

Bei Scott-Elliot hatte es dazu geheißen: »Aber die allerinteressanteste Frage dabei ist die nach der Triebkraft. Anfangs scheint persönliches Vril die Triebkraft geliefert zu haben ...; später aber wurde dieses durch eine Kraft ersetzt, welche, obgleich auf eine für uns unbekannte Weise erzeugt, nichtsdestoweniger durch bestimmte maschinelle Vorrichtungen arbeitete. Dieser durch die Wissenschaft noch nicht entdeckten Kraft kommt diejenige, welche sich Keely in Amerika anzuwenden bemüht, näher als die von Maxim benutzte elektrische. Sie war in der Tat von ätherischer Natur; aber, wenn wir auch der Lösung des Problems nicht näher gekommen sind, so kann doch die Methode ihrer Anwendung beschrieben werden.« Es folgt eine detaillierte, aber nichts erklärende Schilderung der maschinellen Vorrichtungen.(19)

Innere Konsistenz und Nachvollziehbarkeit

Der Vergleich macht Steiners Vorgehensweise deutlich. Für ihn steht weder die Korrektur noch die Erweiterung der detaillierten Schilderungen von Scott-Elliot im Vordergrund. Er integriert das überlieferte Material in einen gedanklichen Zusammenhang, der aus dem Begriff des Gedächtnisses heraus gestaltet wird und erweitert es nur in wenigen Punkten. Genannt sei die stark abweichende Schilderung einer atlantischen Ansiedlung, die bei Rudolf Steiner viel naturnäher ist als bei Scott-Elliot, und die veränderte Konsistenz von Luft und Wasser, die in der Atlantis dichter bzw. dünner war. Davon findet sich bei Scott-Elliot nichts; die Veränderung der Konsistenz trägt aber zur Erklärung sowohl der Flugtechnik wie auch der Wasserversorgung bei.(20)

Rudolf Steiners Beitrag ist nicht auf Bildhaftigkeit, Detailreichtum und Sensation gerichtet, sondern auf Nachvollziehbarkeit, innere Stimmigkeit und Verständnis – das wird gerade im Vergleich mit Scott-Elliots Büchlein deutlich. Steiner schöpft aus einer anderen geistigen Sphäre als Scott-Elliot. Dessen Angaben entstammen der Imagination, sie sind in ihrer detailverliebten Zusammenhanglosigkeit geradezu ein Paradebeispiel für Imaginationen, hinter denen keine bewussten Inspirationen und Intuitionen stehen.(21) Rudolf Steiners Beitrag kommt hingegen aus der Sphäre der Intuition. Er schmilzt den geistigen Gehalt der Atlantis in den Begriff des Gedächtnisses um und gestaltet diesen Gehalt als sich selbst tragenden Zusammenhang inspirativ aus. Für die weitere Umschmelzung in Imaginationen gibt es dann Gestaltungs-Spielräume. Dabei möge man sich vor Augen halten, dass solche Imaginationen ja keine sinnlich-gegenständliche Abbildung äußerer Vorgänge sind. Die Akasha-Chronik ist kein Kinofilm. In ihr ist zu »schauen, was an den Ereignissen nicht sinnlich wahrnehmbar ist, was keine Zeit von ihnen zerstören kann.«(22)

Die Imaginationen, in die die Eintragungen in der Akasha-Chronik gegossen werden, bringen geistige Vorgänge zum Ausdruck, die dem Sinnlich-Gegenständlichen als lebendiger Bildeprozess vorausgehen. Die Frage bei ihrer Ausgestaltung ist dann: Helfen sie, den geistigen Gehalt und Bildeprozess für ein gewöhnliches Bewusstsein greifbar zu machen? Unter diesem Gesichtspunkt kann sowohl eine Anpassung an aktuelle Vorstellungen wie auch die Anknüpfung an Traditionen angebracht sein. Beides scheint mir im Beispiel der atlantischen Luftfahrzeuge der Fall zu sein. Und warum sollte Rudolf Steiner nicht an Traditionen anknüpfen und diese in eine zeitgemäße Form gießen, wenn er sie für zutreffend erachtete und mit ihnen die Vorstellungswelt seines mit der Tradition vertrauten Publikums erreichen konnte? Selbstverständlich hat Rudolf Steiner auch Imaginationen ausgestaltet, die keine Anlehnung an Traditionen aufweisen, beispielsweise im fünften Evangelium. Viele Imaginationen haben jedoch einen traditionellen Hintergrund, man denke etwa an das Rosenkreuz. Vordergründig betrachtet hat Rudolf Steiner es der Tradition entnommen. Jedoch übernimmt er diese Imagination nicht einfach in der vorgegebenen Gestalt, sondern er entwickelt sie, modifiziert ihre Gestalt sinngemäß, macht sie durchsichtig für Inspiration und Intuition und dadurch erst verständlich. Löst man sie von diesem Hintergrund ab, betrachtet sie gar als eigentlichen Inhalt, so wird ihre Deutung als Plagiat immerhin nachvollziehbar. Sieht man sie jedoch als Ausdruck von Inspiration und Intuition, als Hilfe, um geistige Vollzüge selbst auszuüben, so mag man in einer historisch-kritischen Gesamtausgabe ihre Herkunft durchaus aufdecken, ohne damit die geistige Größe Rudolf Steiners zu mindern. Denn die liegt in erster Linie darin, dass er aus seinem Darinnenstehen in Inspiration und Intuition »das Erschaute in die Gestalt von Gedanken zu kleiden« vermochte, »die es anderen ermöglichen, es im eigenen Denken nachzuvollziehen.«(23) Dafür ist sein Aufsatz über die Atlantis ein eindrucksvoller Beleg – das wird im Vergleich mit Scott-Eliott besonders deutlich.

Abschließend sei eine in weitgehend unerschlossenes Gelände führende Frage gestellt. Dass Rudolf Steiner die Anthroposophie im Rahmen der Theosophischen Gesellschaft ausgestaltet hat, gehört zu ihren karmischen Entstehungsbedingungen. Sie müssen nicht für alle Zukunft beibehalten werden. Wie aber würde eine Anthroposophie aussehen, die nicht in das Gewand theosophischer Traditionen gekleidet wäre, sondern sich ohne Umweg an die Mitteleuropäische Geistesentwicklung anschließen würde? Die Frage ist natürlich zunächst hypothetisch. Aber sie fördert das Verständnis der Anthroposophie. Und daran hat Rudolf Steiner jederzeit ein Interesse.

Anna-Katharina Dehmelt, geb. 1959, studierte Musik, Anthroposophie und BWL und verdient mit letzterem den Großteil ihres Lebensunterhaltes. Seit vielen Jahren in Zweigen und Arbeitszentren der Anthroposophischen Gesellschaft engagiert. Mitbegründerin der Firma für Anthroposophie. Forschungsschwerpunkt: Anthroposophische Meditation und Schulung. – Kontakt: Anna-Katharina Dehmelt, Möthengasse 16, 53347 Alfter, AKDehmelt@gmx.de.

(1) Siehe Karen Swassjan: Aufgearbeitete Anthroposophie, Dornach 2007. Dort Anm. 70 mit einem Überblick über ablehnende Rezensionen, dem noch der Beitrag von Jörg Ewertowski: Der bestrittene geschichtliche Sinn in Anthroposophie IV/2007 hinzuzufügen ist.

(2) Dass er dabei die anthroposophische Sekundärliteratur wegen ihres Sinnstiftungsinteresses (S. 4) nur in wenigen Auszügen einbezieht, dürfte die anthroposophische Kritik auch nicht freundlicher gestimmt haben.

(3) Siehe z.B.: Jenseits von Legende und Geheimwissenschaft von Lucian Hölscher in der Süddeutschen Zeitung vom 25. Oktober 2007.

(4) Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland. 2 Bde, Göttingen 2007, z.B. S. 619.

(5) A.a.O., S. 4.

(6) A.a.O., Kap. 11, 12, 13 oder 18.

(7) A.a.O., Kap. 8.4.2.

(8) A.a.O., Kap. 10.

(9) A.a.O., Kap. 7.

(10) A.a.O., S. 686.

(11) A.a.O., S. 642ff.

(12) Aus der Akasha-Chronik, GA 11, 61986, S. 29f.

(13) Atlantis nach okkulten Quellen, 21903, S. 67.

(14) Aus der Akasha-Chronik, S. 24.

(15) A.a.O., S. 26.

(16) Atlantis nach okkulten Quellen, S. 38, 58f, 66. Scott-Elliots Buch hat ein Vorwort von Percy Sinnett, in dem Sinnett auf intelligente Weise den Begriff des astralen Hellsehens über eine Ausweitung des Begriffs des Gedächtnisses vom persönlichen Gedächtnis zum Gedächtnis der Natur entwickelt. Hier könnte ein innerer Zusammenhang bestehen, der uns jedoch an dieser Stelle nicht weiter interessieren muss.

(17) Atlantis nach okkulten Quellen, S. 74, 75, 38f, 44; Aus der Akasha-Chronik, S. 31, 36, 37, 42.

(18) Aus der Akasha-Chronik, S. 28f.

(19) Atlantis nach okkulten Quellen, S. 66. Von Luftschiffen der Atlantier spricht bereits Blavatsky in der Geheimlehre (Verlag J.J. Couvreur, Den Haag, o.J., vermutlich 1899) und gibt dort als Quelle für die »Vimana Vidya« genannte »Kenntnis des Fliegens in Luftfahrzeugen« das Mahabharata an, in das die Kenntnisse der Atlantier eingeflossen seien (II, S. 444) Der Antrieb der Luftschiffe durch Vril bzw. Dem Keely-Motor ähnliche Kräfte findet sich ebenfalls in der Geheimlehre (I, S. 614). Über Atlantis hatte innerhalb der Theosophischen Gesellschaft auch Sinnett im Geheimbuddhismus geschrieben; Luftschiffe kommen dort allerdings nicht vor.

(20) Aus der Akasha-Chronik, S. 31 und S. 30, Atlantis nach okkulten Quellen, S. 55.

(21) Daneben muss allerdings offen bleiben, ob Scott-Elliot nicht (auch) exoterische Quellen benutzt hat. Vgl. außerdem Die Theosophie des Rosenkreuzers, GA 99, 71985, S. 45: »Die Akasha-Chronik ist zwar zu finden im Devachan, doch sie erstreckt sich herunter bis in die astrale Welt, so daß man in dieser oft Bilder der Akasha-Chronik wie eine Fata Morgana finden kann. Sie sind aber oft unzusammenhängend und unzuverlässig ... Das ist wirklich der Fall gewesen in den Angaben von Scott-Elliot über Atlantis, die zwar durchaus stimmen, wenn man sie anwendet in bezug auf die astralen Bilder, doch nicht mehr, wenn man sie anwendet auf die devachanischen der wirklichen Akasha-Chronik.«

(22) Aus der Akasha-Chronik, S. 22.

(23) Ernst Lehrs: Gelebte Erwartung, Stuttgart 1979, S. 321.’

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(Hilversum, 1960) – – Vanaf 2016 hoofdredacteur van ‘Motief, antroposofie in Nederland’, uitgave van de Antroposofische Vereniging in Nederland (redacteur 1999-2005 en 2014-2015) – – Vanaf 2016 redacteur van Antroposofie Magazine – – Vanaf 2007 redacteur van de Stichting Rudolf Steiner Vertalingen, die de Werken en voordrachten van Rudolf Steiner in het Nederlands uitgeeft – – 2012-2014 bestuurslid van de Antroposofische Vereniging in Nederland – – 2009-2013 redacteur van ‘De Digitale Verbreding’, het door de Nederlandse Vereniging van Antroposofische Zorgaanbieders (NVAZ) uitgegeven online tijdschrift – – 2010-2012 lid hoofdredactie van ‘Stroom’, het kwartaaltijdschrift van Antroposana, de landelijke patiëntenvereniging voor antroposofische gezondheidszorg – – 1995-2006 redacteur van het ‘Tijdschrift voor Antroposofische Geneeskunst’ – – 1989-2001 redacteur van ‘de Sampo’, het tijdschrift voor heilpedagogie en sociaaltherapie, uitgegeven door het Heilpedagogisch Verbond

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