Bedoeld is: antroposofie in de media. Maar ook: in de persbak van de wijngaard, met voeten getreden. Want antroposofie verwacht uitgewrongen te worden om tot haar werkelijke vrucht door te dringen. Deze weblog proeft de in de media verschijnende antroposofie op haar, veelal heerlijke, smaak, maar laat problemen en controverses niet onbesproken.

zondag 20 november 2011

Nationaal-socialisme

Het is inmiddels vijf maanden geleden dat ik 23 juni op het einde van ‘Junioogst’ met ‘Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus’ kwam aanzetten, een bericht over een discussieforum tijdens de ‘Jahrestagung der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland in Weimar’. Dat kreeg twee maanden later, op zondag 28 augustus, een staartje met ‘Vriendschapsrelatie’. En sinds 10 november heeft Lorenzo Ravagli op zijn ‘Anthroweb’ hier het volgende aan toegevoegd, ook getiteld ‘Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus’:
‘Ein Podiumsgespräch auf der Tagung »Empfindung Mensch – Wirkung Anthroposophie«, Weimar Juni 2011, veranstaltet von der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland.

Das Podiumsgespräch, an dem Mechthild Oltmann, Bodo von Plato, Michael Rißmann, Uwe Werner und Albert Schmelzer teilnahmen, ist im Sonderheft der »Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland« dokumentiert, das Sie hier herunterladen können.

Dat speciale nummer van ‘Anthroposophie weltweit’ downloaden is gauw gebeurd. En inderdaad staat daar op de bladzijden 18 tot en met 26 het woordelijke verslag van dat podiumgesprek. Het is dus erg lang, maar ook buitengewoon interessant, reden om het hier volledig te laten volgen. De voetnoten beginnen met nummer 8, omdat die door het hele nummer heen doorgeteld worden.
‘Podiumsgespräch
Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus

Mechtild Oltmann, Bodo von Plato, Michael Rißmann, Uwe Werner
Gesprächsleitung: Albert Schmelzer

Einleitung Schmelzer: Sehr geehrte Damen und Herren, zum Podiumsgespräch über das Thema “Anthroposophie zur Zeit des Nationalsozialismus” möchte ich Sie sehr herzlich begrüßen. Mein Name ist Albert Schmelzer, ich bin in der Waldorflehrer-Ausbildung in Mannheim tätig.

Besonders begrüßen möchte ich die Gesprächsteilnehmer auf dem Podium. Da ist zunächst Frau Oltmann, Pfarrerin der Christengemeinschaft in Berlin und Dozentin am Priesterseminar in Stuttgart. Frau Oltmann hat sich mit der apokalyptischen Dimension des 20. Jahrhunderts und dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus beschäftigt. Dann möchte ich Herrn Bodo von Plato begrüßen, er ist Mitglied des Vorstandes der Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum und hat zusammen mit Götz Deimann, Christoph Lindenberg und Karl-Martin Dietz die Forschungsstelle Kulturimpuls zur Erforschung der Geschichte der anthroposophischen Bewegung aufgebaut und bis 2001 geleitet; in diesem Kontext hat er verschiedene Aspekte unserer Thematik bearbeitet.

Mir zur Rechten sitzt Herr Michael Rißmann, er ist Historiker und hat die viel beachtete Studie “Hitlers Gott” vorgelegt, in welcher er die religiösen Dimensionen des Nationalsozialismus aufzeigt.

Schließlich begrüße ich Herrn Uwe Werner, Archivar am Goetheanum und Autor des umfangreichen Buchs “Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus”; in jüngster Zeit hat er zudem die Studie “Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse” veröffentlicht.

Das Gespräch, das wir vorhaben, möchte so etwas sein wie eine gemeinsame Bewusstseinsbildung: Wir möchten uns Rechenschaft geben über die Stellung der Anthroposophie und das Wirken von Anthroposophen in der NS-Zeit – nicht im Sinne einer besserwisserischen Bewertung, schon gar nicht einer Beurteilung oder Verurteilung, aber doch im Sinne einer Schärfung der Urteilsfähigkeit.

Die erste Frage würde ich gerne an alle geben: Wie würden Sie aus der Distanz, die wir ja heute haben, dieses Phänomen des Nationalsozialismus im Verhältnis zur Anthroposophie charakterisieren?

v. Plato: Das Interessante an jeder Geschichte und ihrem Verständnis ist, dass wir unmittelbar in ihren Folgen leben. Vergangenheit ist niemals abgeschlossen, ihre Folgen reichen – faktisch und aufgrund ihrer Reflexion – in die Gegenwart und prägen sie. Jede Gegenwart beurteilt, wertet und versteht das ihr Vorangegangene neu und so wird die Vergangenheit heute eine andere und hat noch eine Zukunft vor sich, die sie wieder anders sehen wird, als sie es zum Zeitpunkt des Geschehens und zu jenem der gegenwärtigen Reflexion war. Gegenwart ist in diesem Sinne ein besonderer Bewusstseinsmoment, in dem Vergangenheit und Zukunft sich berühren und im menschlichen Bewusstsein gestaltet werden. In dem gegenwärtigen Verstehen einer Vergangenheit zeigt sich nicht nur diese Vergangenheit von einer bestimmten Seite, sondern auch unser heutiger Verständnishorizont. Damit charakterisiert die Betrachtung der Vergangenheit – umgekehrt wie erwartet – immer auch unsere Gegenwart. In diesem Sinne ist es besonders erfreulich, dass hier in Weimar bei einer Tagung der Anthroposophischen Gesellschaft zum 150. Geburtstag Rudolf Steiners erneut die Frage nach der Anthroposophie in einer besonders schweren Zeit, in der Zeit des Nationalsozialismus, gestellt wird. Es ist eine Gelegenheit, einen Beitrag zum Verständnis der Anthroposophie in unserer Gegenwart zu leisten.

Das Verhältnis zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft war eines der wichtigen Instrumente in der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda. Allerdings in sehr einfacher Form. Es gibt kaum große Reden prominenter Nazis, insbesondere Hitlers, in der folgende Grundstruktur fehlte: Der Blick in die Vergangenheit zeigt sie immer heroisch, groß, mythisch, schildert die Gegenwart als Jammertal, als in jeder Hinsicht schwierig und verheißt eine große völkische Zukunft in mythischen Bildern. Immer dieser Dreischritt. Er ist Programm. Die Nazis knüpften hier an ein elementares Bedürfnis an, denn dieser Dreischritt entspricht einem ganz natürlichen Empfinden, einem einfachen Eindruck und einer tiefen Sehnsucht: Früher war alles besser, heute ist alles schwierig und morgen wird alles wieder besser werden. Der Zeit als einem fundamentalen Bewusstseinsphänomen und dem sehr vereinfachten Umgang damit kam im Nationalsozialismus wesentliche Bedeutung zu.

Auch in der Anthroposophie fällt auf, dass die Dreiheit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine zentrale Rolle spielt, dass unser Eingeschriebensein in die Zeit bestimmend ist. Anthroposophie bietet große und weite Perspektiven in die Vergangenheit, verleiht dem gegenwärtigen Augenblick und dem Heute weitreichende Bedeutung und entwickelt mächtige, differenzierte Aussichten für die Zukunft. Dabei geht es nicht nur um den einzelnen Menschen, sondern um die ganze Menschheit.

Hier liegt eine Verwandtschaft. Keine Verwandtschaft im Wesen des Nationalsozialismus und der Anthroposophie, aber eine Verwandtschaft in der Art, mit Bewusstsein und bestimmenden Phänomenen der menschlichen Existenz umzugehen, ihnen weitreichende Bedeutung einzuräumen.

Im Hintergrund dieser Gemeinsamkeit, die zunächst recht allgemein erscheinen mag, zu allgemein jedenfalls, um hier als bemerkenswerte Parallele zwischen Anthroposophie und Nationalsozialismus angeführt zu werden, sehe ich einen weiteren Punkt: Ich möchte ihn die anthropologische Disposition nennen. Es gibt eine bestimmte anthropologische Disposition insbesondere in Mitteleuropa, insbesondere in der deutschen Kultur, die den deutschen Faschismus so unverhältnismäßig wirksamer gemacht hat, als die anderen europäischen Faschismen. Der Faschismus war ja bekanntlich kein deutsches Phänomen, er war ein europäisches Phänomen, er kam aber in Deutschland zu dieser ungleich verheerenden Auswirkung. Dem liegt eine besondere Disposition zugrunde und dieselbe anthropologische Disposition ist Voraussetzung für ein Interesse an der Anthroposophie. Diese Disposition besteht darin, dass viele eine tiefe Sehnsucht hatten – und sie werden jetzt das erste Motiv wiederfinden – nach dem, was im Laufe der Säkularisierung, im Laufe der Entwicklung der Aufklärung und Ratio verloren gegangen war, eine tiefe Sehnsucht nach Bildern, nach mythischem Verstehen der Welt, des Lebens, der Gegenwart. Unsere aufgewachte Rationalität verhinderte immer mehr ein Verständnis, das tieferen Schichten unserer Existenz Nahrung gibt. Aufklärung und Fortschrittsglaube machten uns diesseitig handlungsfähiger, ließen aber die Seele verarmen. Die anthropologische Disposition, die für die Anthroposophie wie auch für den Nationalsozialismus – ja für alle Systeme oder Versuche, die den Menschen als Ganzen ansprechen, beanspruchen oder verstehen wollen – von Bedeutung ist, besteht darin, dass ein Bruch im Menschen vorgefallen ist. Die Bruchstelle ist unser Leben in einer diesseits orientierten Ratio, in einem rationellen Zugriff auf Mensch und Welt bei gleichzeitig unbefriedigter Sehnsucht im Herzen nach einer umfassenden Welt- und Menschenauffassung, die nicht im abschließenden, toten Begriff erklärt, aber über das Bild bis in die Kräfte des Lebens Verständnis schafft.

Anthroposophie bietet eine neue Verständigungsmöglichkeit zwischen diesen beiden Polen, zwischen Kopf einerseits und Herz und Willen andererseits. Ebenso der Nationalsozialismus – allerdings im pervertierten Gegenbild. Er setzte dort an, wo die individuelle und gesellschaftliche Lebenswirklichkeit ein Defizit gebildet hatte. Mit instinktiver Präzision entwarfen die Nationalsozialisten ein Zerrbild dieser möglichen und nötigen neuen Verständigung zwischen Begriff und Leben, indem sie moderne technokratische Diesseitsorientierung mit einer imposanten Neuauflage alter mythischer Bilder verbanden.[8]

Oltmann: Es fällt mir seit langem in Diskussionen über unser Thema auf, dass – jenseits jeder Bemühung um Objektivität der Urteile – hier leicht und sicher auch berechtigt der eigene biografische Hintergrund stark mitwirkt. Da ist der Unterschied groß zwischen solchen Menschen, die vor oder bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges geboren sind, und denen, die erst später auf die Erde kamen.

Man kann sich fragen, wie stark die Nachwirkung dessen sein muss, was in der späteren Zeit einer Seele “unterwegs” zur Erde begegnet ist: Gefallene, Verstorbene, Ermordete in schier unfassbarer Zahl. Natürlich prägt das nicht nur den Blick auf eigenes Schicksal, sondern auch die Beurteilungen und das ganze Lebensgefüge der Nachkommenden.

Seit vielen Jahren bemühe ich mich, nach den geistigen Hintergründen des Geschehens dieser Zeit immer neu zu fragen. Dazu gehört auch der Mut, das Ganze in einen Zusammenhang zu denken, drei Ereignisse, die aufeinander bezogen sein könnten und die nacheinander im 20. Jahrhundert eingetreten sind.

Das erste ist, was Steiner “die Wiederkunft des Christus in der ätherischen Welt” nannte, deren Beginn ihm ab 1909 wahrnehmbar wurde. Zweitens dann die Entfaltung der Anthroposophie, die stark beeinflusst worden ist von diesem zuerst genannten Vorgang.

Auf solche zentralen Dinge, beide angetreten, die Welt zu verändern, musste auf der Erde wohl mit Kampf reagiert werden. So erfolgte das Dritte, von dem Steiner im Herbst 1924, beides zusammenfassend, voraussagte: dass das neue Christusgeschehen erst dann von den Menschen richtig erfasst werden könne, wenn sie fertig geworden sind mit der Begegnung mit dem “Tier”, das 1933 aufsteigen wird. (Apokal. 13)

Diese drei aufeinander beziehbaren Ereignisse legen vielleicht nahe, dass es zwischen ihnen “gegensätzliche Zusammenhänge” geben kann. Der Widersacher beherrscht die Kunst der Nachahmung perfekt.

Mit einiger Sensibilität ist das sogar in meinem Arbeitsgebiet erlebbar, dass die Wahrheit nachgeahmt worden ist: innerhalb des Kultus habe ich vom “Führer” zu sprechen oder ich nehme plötzlich an mir selbst wahr, dass ich kultisch in schwarz-weiss-rot gekleidet bin. Geistige Urbilder, die auch im Kultus leben, wurden missbraucht.

Das okkulte Wirken der Nazis ist bekannt, gerade auch in ihren Zeichen, Farben und Symbolen, der eigentliche “Trick” dabei ist, die Sache einfach umzudrehen, wie z.B. das Hakenkreuz, ursprünglich und anders konfiguriert als Sonnenrad verehrt wurde, als Swastika. Das Tier aus dem Abgrund ist der Sonnendämon.

Wie schärft man, nach diesen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, jetzt seine Urteilsfähigkeit so, dass sie die Phänomene in der Gegenwart durchschauen und sie geistig so durchdringen kann und vor solchen verheerenden Irrtümern schützt?

Rißmann: Herr Schmelzer, Sie hatten darum gebeten, das Phänomen des Nationalsozialismus zu umreißen und zu charakterisieren, auch in seinem Verhältnis zur Anthroposophie. Das ist nicht ganz einfach, weil es den Antwortenden zwingt, den Nationalsozialismus gewissermaßen in einem Bild zu verdichten, in einer Formel zusammenzufassen, auf den Punkt zu bringen. Und das ist außerordentlich schwierig. Mein Part hier in der Runde wird ein bisschen der sein – das ist auch verabredet –, dass ich sehr stark die Perspektive der akademisch-universitären Geschichtsforschung einzubringen versuche. Die Geschichtsforschung hat in den letzten Jahrzehnten ungeheuren Forscherfleiß in den Versuch investiert, die NS-Zeit zu verstehen. Dabei zeichnen sich bestimmte Entwicklungen ab, die sehr interessant sind.

Es gab eine erste Phase in den 50er und 60er Jahren, in der man stark betonte, dass das deutsche Volk von dem Dämon Hitler und seinen suggestiven Methoden gewissermaßen verführt worden sei. Man delegierte also die Verantwortung an die Akteure des Regimes.

Dann kam, ab 1968 vor allem, eine zweite Phase, in der man versuchte, die NS-Zeit in sehr abstrakte Modelle zu fassen. Das war die Zeit, in der man über Totalitarismus- und über Faschismusmodelle diskutierte, in der man politologische Kategorien an die NS-Zeit heranführte. Das war einerseits sehr interessant, andererseits manchmal auch sehr blutleer und sehr abstrakt.

Und dann kam ab 1990 eine dritte Phase, die bis heute andauert. Es handelt sich um eine Phase, in der immer weniger Zeitzeugen am Leben sind und in der darum auch der Schuldvorwurf an die Generation der Väter keine so große Rolle mehr spielt. Seit 1990 hat sich die Forschung wieder stärker darauf konzentriert, was der Nationalsozialismus im Verlauf einzelner Biographien bedeutete. Man ging nicht mehr nur von einem Modell aus, von einer umfassenden Erklärung, sondern untersuchte stärker, wie sich bestimmte Persönlichkeiten, aber auch gesellschaftliche Gruppen, die Frontsoldaten zum Beispiel, die Bevölkerung eines bestimmten kleinen Ortes, die Angehörigen einer bestimmten Organisation zum Nationalsozialismus verhielten. Und da scheint sich mir ein Weg abzuzeichnen, der vielleicht in Richtung einer Antwort führt.Wenn es ungenügend ist, “den” Nationalsozialismus zu erforschen, dann ist es vielleicht auch falsch, “die” Anthroposophie in der NS-Zeit zu untersuchen. Vielleicht müsste man sich zunächst einmal darauf konzentrieren, was ein Herr Müller, eine Frau Schmidt, wer auch immer, in dieser Zeit gemacht haben.Wie sie sich dem NS-System gegenüber positioniert haben, wie sie aus ihrer Weltanschauung, aus ihrer Biographie heraus auf dieses Phänomen zugegangen sind. Mein Interesse gilt also der Anthroposophie und dem Nationalsozialismus in ihren Auswirkungen in einzelnen zeitgenössischen Biographien.

Werner: Ich möchte zunächst auf den Aspekt eingehen, inwiefern wir in der Anthroposophie oder sagen wir einmal bei Steiner selbst etwas auffinden können, was uns das Phänomen Nationalsozialismus erläutert, erklärt, auf jeden Fall beleuchtet.

Mir hat ein Begriff geholfen, den Rudolf Steiner 1910 entwickelte, und zwar der der “Heimatlosigkeit”. Am 17. Juni 1910, also heute vor 101 Jahren, hielt Rudolf Steiner in Christiania (Oslo) den letzten Vortrag des Zyklus über die Mission einzelner Volksseelen.

Dieser Zyklus ist so, dass heute ein Kritiker Steiners, der etwas auf sich hält, diesen immer als eine Argumentenquelle für Vorwürfe des Rassismus gegen Steiner nutzt. Ich lese ihn aber gerade umgekehrt: Als Zeugnis einer dezidiert antirassistischen Einstellung.

Steiner beschreibt dort: In frühen Zeiten der nordisch-germanischen Völker war derjenige eben der Führer – ich sage jetzt dieses Wort – dieses Stammes oder dieses Volkes, der zuvor durch bestimmte Einweihungsgrade gegangen war. Und ein vierter Einweihungsgrad war der, sein Volk wirklich zu verstehen, das heisst, dessen Mission im Menschheitsganzen zu verstehen.

In dem Moment, in dem er diese Erkenntnis über sein Volk erreichte, war er über den unmittelbar determinierenden Vererbungszusammenhang mit seinem Volk hinausgewachsen und daher fähig, sein Volk zu leiten. Er wurde, so nennt es Steiner, ein “Heimatloser”.

Für mich ist es so, dass dieses Bild für das spricht, was im Nationalsozialismus, jedenfalls aus dieser Perspektive, sich realisierte wie ein Rückfall, ein Atavismus, in diese Zeit.

Steiner sagt dazu, dass das heute von besonderer Bedeutung ist. Eigentlich sind wir alle als Menschen unserer Zeit bestimmt, in diesem Sinne “heimatlos” zu werden. Wir sind nur insofern Mensch heute, wenn wir jeder das sind, was damals der Führer des Volkes war, die Führereigenschaft liegt heute bei jedem einzelnen gegenüber sich selbst.

Und dazu fügt er natürlich hinzu, dass es darauf ankommt, die Heimatlosigkeit nicht als Wegschieben dessen, zu dem man als Volk gehört, zu betrachten, sondern zu einer sogenannten Selbsterkenntnis des Volkes durch sich selbst zu kommen, die mich als Individuum in diesem Volke erkennen lässt, gleichzeitig aber mir eine Distanz zum Volke ermöglicht, so dass ich auf der anderen Seite mit diesem auch wieder im Menschheitsganzen sinnvoll umgehen kann. Das, was Steiner für die ersten Zeiten in diesen Einweihungsmöglichkeiten für die Führer der Völker ausführt, – und er meint es nicht nur für nordisch-germanische Völker –, er hat es auch für den Perser ausgeführt, das war wohl überhaupt Menschheitszustand damals. Steiner nannte das konstruktiv, er meinte damit, dass das in der damaligen Zeit eben konstruktiv war.

Wenn – und damit spricht er aus, was für mich ein Licht auf diese Zeit des Nationalsozialismus wirft, wenn es heute wieder so wird, dann kann es nur zerstörend, destruktiv wirken: Gesellschaftliche Ideale aus Blutszusammenhängen zur Praxis zu machen, gehört heute zum Schlimmsten, was passieren kann.

Und was geschehen ist in diesem letzten Jahrhundert ist ein Ereignis, das in diesem Sinne von Steiner vorgeahnt wurde, ich weiß nicht in welchem Ausmaß, aber vorgeahnt in dieser Beschreibung der Nichtbeachtung der neuen modernen Heimatlosigkeit, die uns eigentlich mit jedem Menschen auf der Erde verbindet. Aber es bedeutet auch, dass die Herausforderung, heimatlos zu sein, heute viel größer ist, als in dem Moment, wo Steiner das ausführte. Denn das 20. Jahrhundert ist ja geschehen. Ich bin auch Deutscher von der Geburt her und damit habe ich zu tun.

Und damit hat jeder von uns zu tun zusätzlich zu dem, was zu dem Zeitpunkt 1910 schon so war. 1918 hat Steiner nochmals diese Vorträge selbst redigiert und herausgegeben und gesagt, das sei notwendig nach dem Weltkrieg. Denn eigentlich ist es deutlich, dass er 1910 die Unterschiede zwischen den Völkern, die Besonderheiten, die Charaktere der einzelnen Völker deswegen darstellen wollte, damit jeder von uns sich mit diesen Unterschieden erkenntnismäßig verbindet und nicht für sich instrumentalisiert, so dass er echter “Heimatloser” wird, das heißt mit den anderen Völkern auch zusammen sein kann, also Brücken schlagen kann.

Eine nächste kommentierte Ausgabe dieser “Mission einzelner Volksseelen” steht übrigens unmittelbar bevor in den nächsten Monaten.

Das ist ein Einschnitt, mit dem ich mich so beschäftigen konnte, dass ich mich dem Phänomen Nationalsozialismus nähern konnte als Deutscher.

Schmelzer: Vielen Dank, ich denke, Sie haben ein erstes Bild entwickelt, aus dem sich Folgendes ergibt: Der Nationalsozialismus war ein grandioser Atavismus, ein Gegenbild zur Anthroposophie und damit doch in einem Bezug zu ihr stehend.

Nun ist es ja so, dass außerhalb der anthroposophischen Bewegung noch eine andere Deutung verfolgt wird, die eben sagt, die anthroposophische Bewegung habe den Nationalsozialismus direkt vorbereitet, sie sei Teil der völkischen Bewegung.

Herr Zander, ich nehme jetzt einmal diesen Kritiker heraus, hat 2001 – inzwischen ist er wohl etwas davon abgerückt – gesagt die Anthroposophie gehöre “zum intellektuellen Hintergrund und Überbau der deutschen Tragödie”, weil sie eben Teil der völkischen Bewegung sei. Wie würden Sie, Herr Rissmann, diese Äußerung beurteilen?

Rißmann: Vielleicht eingangs zunächst einmal ein kurzer Versuch, das Phänomen der völkischen Bewegung kurz zu beschreiben. Die Forschung versteht unter “völkischer Bewegung” die unendlich vielen Gruppierungen, Parteien, Sekten, Zeitschriften, Einzelpersönlichkeiten im Kaiserreich und noch in der Weimarer Republik, die rassistische, antisemitische und nationalistische Positionen vertraten. Insofern ist die völkische Bewegung, da ist sich die Forschung ganz einig, auf jeden Fall eine der stärksten ideengeschichtlichen Ströme, die in den Nationalsozialismus hinein führen, wenngleich man beides nicht gleichsetzen kann. Hitler hat sich von manchen Traditionen der völkischen Bewegung, vor allem von dem dort sehr verbreiteten Germanenkult, deutlich abgesetzt.

Ihre Frage war, wie sich die Anthroposophie zur völkischen Bewegung verhält: Gehört sie irgendwie dazu? Gibt es Überlappungen in Randgebieten? In der Publizistik ist immer wieder die These vertreten worden, die Anthroposophie sei Teil der völkischen Bewegung gewesen, ich denke da an Jutta Dithfurths “Feuer in die Herzen” und vergleichbare Publikationen. Dann hat sich die akademische Forschung der Frage angenommen; Sie hatten Helmut Zander erwähnt. Und seit etwa 10 Jahren wird über diese Frage außerordentlich intensiv geforscht, und zwar sowohl an den Universitäten als auch im anthroposophischen Spektrum. Das erstaunliche Ergebnis ist für mich, dass am Ende dieses Prozesses beide Seiten – die universitäre wie die anthroposophische Forschung – überwiegend die Einschätzung vertreten, dass die Anthroposophie nicht zum völkischen Spektrum dazugehört. Das war ursprünglich nicht so zu erwarten.

Warum gehört sie nicht dazu? Sie gehört deshalb nicht dazu, weil Steiner in einer Reihe von Fragen, die für die völkische Bewegung ganz zentral waren, Positionen vertreten hat, die ein völkischer Agitator so niemals akzeptiert hätte.

Zum einen ist das Thema “Rassen” zu nennen. Es gibt bei Steiner einen Rassendiskurs, Sie hatten eben ja auch darauf hingewiesen. Allerdings würde ein Vertreter des völkischen Spektrums diesen Diskurs anders führen. Für einen Völkischen war es völlig klar, dass die Rasse die zentrale Größe in der ganzen Menschheitsgeschichte ist. Etwas, was immer da war, was immer bleiben wird, was den geschichtlichen Prozess vorantreibt. Steiner dagegen macht sehr deutlich, dass er der Menschheit die Aufgabe zuspricht, sich von diesen Rassebindungen zu lösen und zu etwas Neuem vorzustoßen. Diese Überwindung bereits der Kategorie “Rasse” wäre für einen Völkischen völlig unerträglich gewesen. Ähnlich verhält es sich beim Thema “Antisemitismus”. Für einen Völkischen war es ganz klar, dass “Juden ein Übel sind, eine negative Kraft in der Geschichte, die schon immer rein destruktiv” gewirkt hat. Steiner hingegen hat darauf hingewiesen, dass das Judentum eine bestimmte kulturelle Aufgabe hat, und er spricht ihm, vor allem auch der Gestalt des Moses, eine ganz zentrale und menschheitsgeschichtlich wichtige Funktion zu. Ein Völkischer hingegen hätte nicht akzeptiert, dass das Judentum überhaupt einmal eine Aufgabe, einen Sinn gehabt hätte.

Und im Bereich “Nationalismus”, also der dritten Säule der völkischen Bewegung, ist es ja sehr eindeutig, dass Steiner sich immer wieder und sehr frühzeitig von nationalistischen Parolen distanziert hat. Die Hochschätzung und die Wertschätzung der deutschen Kultur, die man bei Steiner findet, hat einen völlig anderen Charakter als der sehr vulgäre, aggressiv gegen andere Völker gerichtete Nationalismus, wie man ihn bei den Völkischen findet.

Die Frage der Forschung, ob Anthroposophie und völkische Bewegung verwandt sind, ist zunächst einmal legitim, da sowohl die Völkischen als auch die Anthroposophie zum alternativkulturellen Milieu der Weimarer Zeit zählten. In diesem alternativkulturellen Milieu, zu dem auch die Lebensreformbewegung und viele andere Strömungen gehörten, gab es natürlich viele Verflechtungen, die zuletzt intensiv untersucht worden sind. Im anthroposophischen Spektrum gab es in den letzten Jahren eine Reihe solcher Studien, die sich mit den Beziehungen von Anthroposophie und völkischer Bewegung befasst haben, Lorenzo Ravaglis Monographie “Hammer und Hakenkreuz” zum Beispiel, aber auch in der akademischen Forschung, wo vor allem Helmut Zanders zweibändige Monographie zur Geschichte der Anthroposophie zu nennen ist. In diesem Werk vertritt Zander, im Gegensatz zu früheren Studien, nicht mehr die These, dass die Anthroposophie dem völkischen Rassismus zuzuordnen ist. Er distanziert sich sogar von dieser These in einer Fußnote und verweist zustimmend auf den anthroposophischen Publizisten Ralph Sonnenberg.[9] Auch ein wichtiger Vertreter der akademischen Forschung vertritt somit die Auffassung, dass ein Rassendiskurs, wie man ihn bei vielen Denkern dieser Zeit findet, noch nicht zwingend bedeutet, dass jemand ein völkischer Rassist ist.

Ich glaube, die Diskussion in den letzten Jahren war sehr fruchtbar und hat an einen Punkt geführt, wo man jetzt wirklich insgesamt klarer sieht.

Werner: Ohne die Naziherrschaft wären die heutigen Rassismusvorwürfe gegen Steiner uninteressant, d. h. niemand würde sich die Mühe machen, diese vorzubringen. Die entsprechenden Autoren interessieren sich offensichtlich nur insofern für Steiner, als sie ihn in die Nähe völkisch-rassistischer Anschauungen bringen wollen, um ihn als Vordenker der Nazis zu brandmarken. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie es denn überhaupt kommt, dass man Steiner zum Beispiel des Rassismus bezichtigen konnte. Das war mir zunächst einmal vor 15 Jahren vollkommen fremd. Und das geht Ihnen vielleicht auch so: Wie kann man nur! Und mir ist inzwischen deutlich geworden, im Durchgang durch die Literatur dieser Autoren, dazu gehören z.B. Peter Bierl, Petrus van der Let, Helmut Zander und neuerdings auch Jana Husmann an der Berliner Humboldt Universität, mit einer Dissertation, ebenso Peter Staudenmaier in den USA, mit einer Dissertation über Anthroposophie als Beispiel für den Zusammenhang zwischen Esoterik und Faschismus. Sie ist 2010 im Internet erschienen, aber noch nicht als Buch.

Mir ist aufgefallen, dass keiner von diesen Autoren jemals den Begriff des Rassismus irgendwie definierte oder charakterisierte oder schreibt, was er denn als Rassismus versteht. Weshalb ist das so? Es ist die Frage, ob das bewusst oder unbewusst geschieht.

Diese Autoren bezeichnen als Rassismus, wenn jemand über Unterschiede zwischen Rassen und Völkern spricht.

Weitere gedankliche Klärungen werden dabei nicht vorgenommen. Man kann diesen immer wieder herangezogenen Zyklus “Die Mission einzelner Volksseelen” wie gesagt auch vollkommen anders lesen.Was fehlt denn da? Es fehlt dasjenige, was eigentlich eine Wahrnehmung der Intentionen und der Stimmung Steiners erkennt, dem Rechnung zu tragen. Wenn man darauf schaut, wie Steiner über Unterschiede zwischen Völkern spricht.

Und ich habe den Eindruck, ich sage das jetzt ein bisschen scharf, thesenartig, dass die Art der Wissenschaftlichkeit, die immer noch in den sogenannten Geisteswissenschaften herrscht, eine ist, die mehr oder weniger die Möglichkeit der Empathie, den Blick auf die hier gemeinte wesentliche Stimmung und Gesinnung, ausschließt.

Denn ich glaube, man kann an Steiner nur herankommen, wenn man auch eine Art Empathie übt. Und es ist die Angst vor Subjektivität, die einen abhält, Empathie zu üben. Dabei ist, und das ist gestern auch gesagt worden, Empathie überhaupt nicht etwas, was einen subjektiv werden lässt. Aber diesen Schritt haben die Geisteswissenschaften eben bisher nicht getan.

Die kritischen Autoren weichen der Frage aus, was die eigentliche Intention Steiners ist, durch die Abwesenheit von Empathie.

Ich hab das mal so bei mir zusammengefasst: Sie reden das Herz weg. Denn bei Steiner hat man die Empathie mit Völkern, mit Rassen, die er beschreibt.

Also wir haben da ein Phänomen, das die Gesinnung, auf die es ankommt, nicht berücksichtigt. Und wenn wir die Gesinnung nicht berücksichtigen, dann kann man alles mögliche herausziehen, mit zehn Zitaten hat man einen “rassistischen Steiner”.

Das ist für mich die Erklärung dafür, warum es überhaupt zu den Rassismusvorwürfen gekommen ist, ob sie nun bewusst gewollt sind, aus irgend einer Antipathie oder sozusagen wissenschaftlich begründet, das ist eine andere Frage. Ich meine, diese Diskussion zeigt, dass die Art der Wissenschaft, die getrieben wird, einen Schritt weiterkommen müsste, um überhaupt zu verstehen, was Steiner intendiert hat in dieser Richtung.

Schmelzer: Ich denke, Ihre Ansicht ist deutlich geworden, und die lautet, dass sich Anthroposophie nicht unter die völkischen Bewegungen rechnen lässt.

Ich würde dann gerne die Thematik weiterführen hin zum Zeitpunkt der Machtergreifung. Denn da taucht etwas auf was bedacht werden muss.

Hans Büchenbacher war damals Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland. Er berichtet über das Jahr 1933, dass der Landesvorstand einstimmig gegen den Nationalsozialismus eingestellt war, aber dann sagt er, bezogen auf die Mitgliedschaft, ich zitiere: “... dass 1933 ungefähr zwei Drittel der Mitglieder mehr oder weniger positiv zum Nationalsozialismus sich orientierten.” Ich würde gerne Herrn von Plato und vielleicht auch Frau Oltmann fragen, wie das ihrer Ansicht nach zu erklären ist.

v. Plato: Geschichte und ihre angemessene Beurteilung hat ja sehr viel mit Gefühl zu tun, die notwendige Gefühlsnähe sachgemäßer Erkenntnis wird im geschichtlichen Verstehen besonders merklich. Es ist wie mit der Wahrheit, die sich nicht allein der – kritischen – Erkenntnis erschließt, denn letztlich beruht das, was wir für wahr halten, auf einem Wahrheitsgefühl. Ich erinnere noch recht genau den Moment, als ich zum ersten Mal diese Quelle kennen lernte, in der Hans Büchenbacher diese Einschätzung über die überwiegend braune Mitgliederschaft der Anthroposophischen Gesellschaft schildert. Ich war erschüttert und fühlte: Das stimmt und es stimmt überhaupt nicht! Gerne möchte ich versuchen, das verständlich zu machen.

Es stimmt, denn für Anthroposophie interessierten sich insbesondere Menschen, die sich nicht in die Gegenwart der Weimarer Republik finden konnten, die heimatlosen Seelen, wie Uwe Werner sie eben nannte. Ein Nicht-Einverstanden-Sein mit den gegebenen gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen charakterisierte damals – wie übrigens wohl auch heute – die Mehrheit der Anthroposophen. Und der Nationalsozialismus hat entschieden gebrochen mit der Weimarer Gegenwart und eine neue Gegenwart an die Stelle gesetzt, die angeblich aus einer tiefen Verbindung von Vergangenheit und Zukunft geschöpft war, eine Gegenwart, die aus großen, einfachen Perspektiven lebte. Und das in einer radikalen Form. Zugleich wurden scheinbar unlösbare Probleme gelöst, die jedem vor Augen standen – die Arbeitslosen beispielsweise verschwanden. Eine neue zuversichtliche Stimmung und konkrete Lösungswege wurden sichtbar. Das war überzeugend für eine sehr große Masse – und wie wir wissen sogar für viele nachdenkende, gebildete oder kritische Menschen, die erst später, oft erst nach 1939 zu Gegnern des Nationalsozialismus wurden. Also nicht nur für Anthroposophen, sondern überhaupt scheint mir folgender Griff der Nazis die für uns Nachgeborene schwer nachzuvollziehende Tatsache verständlicher zu machen, warum so viele den Nazis auf den Leim gegangen sind. Sie machten Schluss mit dem scheinbar fruchtlosen Debattieren, handelten, gaben Bilder, Identität und jedem seinen Platz und man sah: es funktioniert! Die Nazis beendeten den abwägenden Diskurs, die ermittelnde Diskussion, auf die nicht nur jede Demokratie, sondern jede mündige Gesellschaft und alle reflektierte Wahrheitsfindung gründet. Hier waren Anthroposophen anfällig. Möglicherweise weil sie in dem Gefühl lebten, Wahrheit und Wirklichkeit durch die Offenbarungen der Geisteswissenschaft zu erhalten, also muss man nicht lange tasten, suchen, diskutieren. Sicherlich kennen und verstehen Sie das Gefühl: Bei aller Liebe zum ermittelnden Erkenntnisgespräch – die eigentliche Wahrheit gibt sich doch auf anderen Wegen kund. Aus diesem Gefühl entsteht keine ausgeprägte Diskursaufgeschlossenheit. Man freut sich vielmehr, wenn jemand sagt, wo es lang geht. Ich glaube das ist einer der Gründe, warum Büchenbacher zu recht vermutete, die Mehrheit der Anthroposophen sei braun.

Die Vermutung Büchenbachers stimmt aber in dem Moment faktisch nicht, in dem es ernst wurde mit dem Bekenntnis zum Nationalsozialismus. Da kann man diese Quelle nicht bestätigen. Wir haben ja im Rahmen der Nationalsozialismusforschung und der Arbeit an dem Buch von Uwe Werner in der Forschungsstelle Kulturimpuls auch eine Menge Biographien untersucht, und haben da gesehen: Ja, in einem ersten Stimmungsbild würde man sagen, dass da bei einigen Anthroposophen eine Affinität zum Nationalsozialismus vorhanden gewesen sei. Der Eindruck ergab sich vielleicht auch aus dem Fehlen klarer Stellungnahmen und Aktionen gegen das Regime. Schauten wir aber genauer in die einzelnen Biographien, entdeckten wir Haltungen, Entscheidungen, Aktivitäten, die dem ersten Eindruck widersprechen. Kein auffälliger oder militanter Widerstand, aber stille, wachsende Ablehnung der totalitären und vor allem dann kriegerischen und menschenverachtenden Signatur des Nationalsozialismus. Inneres Exil gegen die Nazis und der Versuch, die eigene Weltauffassung mit einem entsprechenden Engagement durchtragen zu können, ist wohl die sachgerechte Beschreibung für die Haltung der meisten Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft. Viele davon haben wir in dem Buch “Anthroposophie im 20. Jahrhundert – ein Kulturimpuls in biographischen Portraits” 2003 und im Internet veröffentlicht.[10] Büchenbachers Auskunft lässt sich weder durch Zahlen, Parteimitgliedschaft, etc. noch durch andere Quellen bestätigen. Wir haben gesucht – und ich sage das nicht, um Anthroposophen rein zu waschen oder zu verteidigen, weil ich gerne möchte, dass sie nicht braun wären – was natürlich auch stimmt. Sie waren es wohl tatsächlich nicht.

Aber dennoch glaube ich, dass in Büchenbachers Aussage viel von der Ambivalenz zum Tragen kommt, die überhaupt das Verhältnis der Deutschen zum Nationalsozialismus kennzeichnet. Ganz anders als zum Beispiel das Verhältnis der Russen zum Stalinismus. Der Nationalsozialismus realisierte die ins Gegenbild verzerrte Sehnsucht der Deutschen nach einer Wirklichkeit, die tief in mythischer Vergangenheit verwurzelt ist und zugleich jeder Klarheit der Vernunft offen ist, während in der UdSSR offensichtlich war, dass der stalinistische Totalitarismus nicht Sache des Volkes war. Das lag bei den Deutschen und ihrem Totalitarismus viel komplizierter. Ich hoffe, wir kommen in unserem Gespräch noch auf die Frage des Widerstandes, denn da werden wir ähnliche Schwierigkeiten haben, wenn wir fragen, ob und wie eigentlich Anthroposophen Widerstand geleistet haben.

Oltmann: Zum Motiv der Ambivalenz könnte man hinzufügen, dass die Verführung, die von der Macht des Bösen ausgeht, sehr genau weiß, wo sie anknüpfen muss. Da kamen in dieser Zeit Menschen auf der Erde an, die in ihrem “Gepäck” aus dem Leben vor der Geburt herstammende Ideale mitgebracht hatten, auch solche, die sie die Anthroposophie suchen ließen natürlich. Und auf einmal tauchte an vielen Stellen eine Sehnsucht nach Führern auf, auch auf den Wegen, die “Erkenntnisse der höheren Welten” suchten. Dann wird ihnen in ihrer Jugend dem Ideal Ähnliches entgegengebracht, eine Führung, die in den Abgrund statt auf den Berg führte. Es ist sogar einigen der späteren Widerstandskämpfer passiert, die ganz am Anfang vorübergehend auch darauf hereinfielen, bis sie die Täuschung durchschauten. Jugendlichen Idealismus für die eigene Macht auszunutzen, ist wohl eine besondere Spezialität Luzifers. Auch das anthroposophische Potential an einem solchen Idealismus war und ist sehr groß!

Die Bilder, welche man auf die Erde mitbringt, sind eben deutungsfrei, sie tragen keine Erklärungen an sich, nur auf der Erde, im Bereich der Freiheit, ist Urteilsfähigkeit zu erlernen.

Schmelzer: Ich würde gerne diese Frage auch noch an Herrn Rissmann geben, und einen weiteren Aspekt dazu stellen: Könnte es nicht auch sein, dass die Dreigliederungsbewegung, mit ihrem demokratischen Gedankengut, mit diesem freien Kulturleben, dass das nicht wirklich rezipiert worden ist in der anthroposophischen Bewegung und dass auch die Brücke zur Arbeiterschaft nicht stark genug geschlagen worden ist? Denn es waren ja die Arbeiter, vielfach Angehörige der Kommunistischen Partei, der Sozialdemokratischen Partei, die in deutlicher Opposition standen und als erste verfolgt wurden vom Nationalsozialismus.

Rißmann: Das Zitat von Herrn Büchenbacher lautete, glaube ich so, dass er gesagt hatte, die Zweigmitglieder stünden der NS-Bewegung aufgeschlossen gegenüber. Er sagte nicht, es seien Nazis, sondern er sagte, sie stünden der NS-Bewegung aufgeschlossen gegenüber. Diese Haltung ist, meine ich, durchaus typisch für große Teile der deutschen Bevölkerung im Zeithorizont 1932/33.

In dieser Zeit findet man in der bürgerlichen Mittelschicht, vor allem auch in der akademisch gebildeten bürgerlichen Mittelschicht, sehr häufig eine insgesamt aufgeschlossene Haltung gegenüber der NS-Bewegung. Man hielt sie zwar für etwas vulgär, etwa die Art, wie die SA auftrat öffentlich, aber man identifizierte sich mit vielen ihrer Ziele: Nationale Erneuerung, Schluss mit der Schande von Versailles und der Kriegsschuldlüge – ich spreche jetzt bewusst in den Worten der Zeit. Mit diesen Zielen konnten sich damals weite Kreise der bürgerlichen, gebildeten Mittelschicht identifizieren, also letztendlich ein Milieu, das man als konservativ, als national-konservativ bezeichnen kann. Dort sah man die NSBewegung als Stärkung des nationalen Gedankens. Aus dieser Haltung heraus hat man dann ja auch den Versuch unternommen, 1933 ein Kabinett zu bilden, in das die NSBewegung eingebunden wurde, aus der naiven Haltung heraus, man werde die Nationalsozialisten dann schon zähmen und sie unter Kontrolle halten. Man hat nicht erkannt, welche Dynamik sich da sehr schnell entwickeln würde.

Die anthroposophische Bewegung hat sich, soweit ich das überschaue, in den 20er Jahren eher als eine apolitische Bewegung verstanden, die kulturelle, geistige Interessen verfolgt, sich aber nicht in die Tagespolitik einmischt. Sie war aber sicherlich in ihrem Mitgliederpool eher dem eben skizzierten bildungsbürgerlichen Milieu zuzurechnen. Und insofern hätte es mich fast überrascht, wenn es in der anthroposophischen Bewegung 1933 keine Affinität zu solchen konservativen Haltungen gegeben hätte, die dann auch dazu führen konnten, dass man das Phänomen des Nationalsozialismus zunächst einmal begrüßte.

Die Nähe der Anthroposophie zur deutschen Kultur und zu bestimmten Strömungen der deutschen Kultur ist ja in dieser Zeit innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft sehr stark gepflegt worden, wenn ich das richtig einschätze. Aber da ist Herr Werner wahrscheinlich der kompetentere Ansprechpartner.

Schmelzer: Ja, und ich würde Herrn Werner gern eine weitere Frage mitgeben: Gab es Anthroposophen, die Hitler direkt positiv eingeschätzt haben?

Werner: Ja, es sind aber doch zwei verschiedene Fragen, die sich da auftun. Ich denke Sie wissen, dass Steiner den Vertrag von Versailles auch als Katastrophe betrachtete, also die Zuschiebung der Schuldfrage ausschließlich zum deutschen Volk. Und deswegen, das wurde ja eben auch erwähnt, lebte eine Art Sympathie unter Anthroposophen: Hitler will ja auch diese Schuld, diese “Schande von Versailles” wiedergutmachen, oder wie man das nennen will.

Ich möchte nur erwähnen, dass die Anthroposophen da wohl Steiner missverstanden haben – und bitte, das ist überhaupt nicht irgendwie abschätzig gemeint –, nur dass man verstehen kann, wie Vorgänge in dieser Zeit auch sein konnten: Eigentlich meinte Steiner, die Katastrophe von Versailles ist, dass dadurch Revanchelüste auftreten werden, die zu einem neuen katastrophalen Konflikt führen werden. Das war eindeutig bei Steiner. Aber das war nicht eindeutig bei den Anthroposophen. Es gab eigentlich gar keinen Grund, dem Nationalsozialismus deswegen besonders sympathisch gegenüberzustehen. Aber das sage ich natürlich aus der Perspektive von 80 – 90 Jahren später.

Nur sind eben solche Missverständnisse aufgetreten, die, damit möchte ich auf die zweite Frage eingehen, dazu führten, dass einige Anthroposophen sich direkt positiv zu Hitler stellten und das auch ausgedrückt haben. Das ist jetzt bitte nicht als bequeme Kritik zu verstehen. Ich weiß gar nicht, wie ich mich verhalten hätte, ich wäre wahrscheinlich auch begeistert gewesen.

Aber wie da “anthroposophisch” argumentiert wurde, das ist wichtig. Oft nur, weil man irgend etwas sympathisch fand. Dabei darf ich erwähnen, dass die Recherchen über Personen und Menschen, die als Anthroposophen in irgendeine Parteiorganisation oder die Partei selbst eingetreten sind, nicht mehr als 34 Namen ergeben haben. Diese Erkenntnis verdanken wir mit Peter Staudenmaier übrigens einem der schärfsten Ankläger Steiners.

Er hat das recherchiert, viel weiter und detaillierter als ich das vor 20 Jahren tun konnte, weil die Archive wesentlich besser zugänglich sind.

Vielleicht findet man außer diesen 34 Namen noch weitere Menschen, die als erklärte Anthroposophen in irgendeine Parteiorganisation eingetreten sind. Man müsste untersuchen, welches ihre Motive waren, ob Opportunismus oder wirkliche Sympathie vorlag usw. Und dann wäre diese Zahl ins Verhältnis zu setzen zu den etwa 8.000 Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland in jener Zeit.

Bei einzelnen kann man es ideologisch oder weltanschaulich deuten. Da gibt es z.B. jemanden, vielleicht sollte ich den Namen gar nicht nennen, der 1933 in seiner Autobiographie – die übrigens als Typoskript auch in der Bibliothek am Goetheanum steht – folgendes schreibt: “Für Hitlers augenblickliche Aufgabe, die Kriegsschuld Deutschlands und damit die ganze verlogene heutige Politik nieder zu brechen, ist das nicht so nötig, an was er vorbeigeht.” – An was er vorbeigeht, meint hier die Brutalitäten der SA – “Dafür war nur nötig, die Deutschen in einem volksmäßigen, starken Selbstgefühl zusammenzufassen. Das hat er getan und es ist ihm gelungen, wie gesagt, weil der Volksgeist hinter ihm steht und schiebt. So hat er wohl das deutsche Volk vor der Auflösung gerettet und damit Michael den Körper bewahrt, den er braucht, um in die Erdenmenschheit wirken zu können.” So weit die eine Seite. Und meines Erachtens liegt hier deutlich eine Verwechslung von Hitlers Art, Deutschtum zu betrachten, und Steiners Art, Deutschtum zu betrachten, vor.

Andererseits kommt Alfred Meebold, um den es sich handelt, aber auch zu einer anderen Ansicht: “Die eigentliche Absicht Michaels, die Mission des deutschen Geistes, die Fichte, Goethe, Schiller, und viele andere vertraten und meinten, die Rudolf Steiner zum Tageslicht herausgearbeitet hat vom bloßen Erahnen und Erfühlen, lässt sich nicht mit Blutmaterialismus begründen. Sie erfordert eine klare Erfassung der geistigen ,Ichwesenheit’”. Allerdings erläutert er nicht, was er unter Hitlers “Ichwesenheit” verstehen würde.

So äußerte sich 1933, also noch in der Anfangszeit ein angesehener Anthroposoph. Er wandert dann fünf Jahre später aus.

Darin – möchte ich noch bemerken – gibt es aus meiner Sicht verschiedene Irrtümer. Also dass Michael aus der Sicht Steiners einen Volkskörper braucht, ist für mich äusserst fraglich. Und ob Michael überhaupt Volksgeist des deutschen Volkes ist, ist für mich nicht weniger einfach zu beantworten. Dieser Autor, sehr angesehen, befreundet mit Rudolf Steiner, befreundet über Jahrzehnte, hat das jedenfalls so interpretiert.

Daraus wird verständlich, warum er, zumindest zunächst, diese sogenannte Erneuerungsbewegung begrüßt hat. Aber dahinter steht schließlich der Begriff des “Deutschtums” bei Steiner. Und der ist eigentlich ganz anders. Er geht in die Richtung dessen, was ich zu Anfang über die Mission “einzelner Volksseelen” angedeutet habe.

Schmelzer: Vielleicht kann ich ergänzen, dass Herr Werner aus seinem eigenen Buch zitiert hat, also Uwe Werner, “Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse”, das vor kurzem erschienen ist.

Werner: Das Zitat ist aus Erinnerungen von Alfred Meebold. Die sind in mancher Hinsicht außerordenlich interessant, denn er war ein außerordentlich interessanter Mensch. Ich glaube er ist 90 Jahre alt geworden. Er hat viel aufgebaut in Neuseeland und hat zuvor in Heidenheim gelebt und viel fruchtbares anthroposophisches Leben gepflegt. Das möchte ich noch hinzufügen, damit man nicht nur eine einseitige Sicht auf diesen Menschen hat. Andere, meine ich, hatten ähnliche Motive, so dass er beispielhaft für manche andere ist, die in der ersten Zeit Hitler guthießen oder begrüßten.

Schmelzer: Wir haben über eine gewisse Nähe mancher Anthroposophen zum Nationalsozialismus gesprochen. Das fordert sozusagen die Gegenfrage, die ich gerne Herrn v. Plato stellen würde:

Gab es Anthroposophen der damaligen Zeit, die von vornherein diesen Nationalsozialismus und auch Hitler durchschaut haben, auch in dieser ganzen Dimension, in der sie aufgetreten sind? Und dazu: Welche Fähigkeiten hatten diese Menschen?

v. Plato: Sie hatten selber schon den Vorstand der damaligen deutschen Anthroposophischen Gesellschaft erwähnt, die dann im November 1935 von den Nazis verboten worden ist. Bei den leitenden Persönlichkeiten der anthroposophischen Arbeit in Deutschland war ein recht klares Bewusstsein darüber ausgebildet, dass es mit Hitler und der nationalsozialistischen Bewegung nichts Gutes auf sich hat. Im Hinblick auf die biografische Fragestellung ist sicherlich die sehr frühe Erkenntnis und Einschätzung von Albert Steffen am bemerkenswertesten und am interessantesten. Albert Steffen, der 1984 geborene schweizerische Dichter, hat seit Anfang des 20. Jahrhunderts mit Rudolf Steiner zusammengearbeitet, ist dann 1923 /24 bei der Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in ihren Vorstand berufen worden und war nach Steiners Tod über fast 40 Jahre Vorsitzender der Gesellschaft am Goetheanum. Er hat mit seinen ausgebreiteten menschlichen, sozialen und politischen Interessen die ganze Entwicklung in Deutschland genau verfolgt und auch künstlerisch verarbeitet. In den frühen 30er Jahren, noch vor der Machtergreifung, bringt er ein Drama heraus, “Der Sturz des Antichrist”, in dem er wie bei vielen seiner dramatischen Werke drei Ebenen der Betrachtung verwebt: Erstens die Auseinandersetzung mit seiner jeweiligen Gegenwart, in der er versucht, ein Bild von der Zeit zu zeichnen und darin tiefere spirituelle Schichten zu erfassen; zweitens die Auseinandersetzung mit Problemen innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft; und schließlich drittens den Aspekt der individuellen, geistigen Entwicklungsmöglichkeiten, die man an diesen Ereignissen gewinnen kann. Besonders im Sturz des Antichrist, aber auch in einer Reihe von Aufsätzen – er hat damals fast jede Woche einen Aufsatz, einen Leitartikel in der Zeitschrift “Das Goetheanum” geschrieben – und ganz ungeschminkt in seinen Tagebüchern wird deutlich, wie er die verschiedenen Schichten des Zustandekommens und die geistig-menschliche Unmöglichkeit des Nationalsozialismus versteht. Er schildert sie in seinen veröffentlichten Arbeiten meistens indirekt und verdeckt, weil er schon früh ahnte, dass dieses Regime zur Macht kommen würde. Deutschland war damals das anthroposophisch wichtigste Land und es war politische Vorsicht, sich nicht zu radikal und offenkundig gegen den Nationalsozialismus zu stellen, um nicht den Mitgliedern der Gesellschaft in Deutschland das Leben und Überleben schwer zu machen. Im Falle Albert Steffens sieht man sehr deutlich, wie die künstlerisch-dichterische Sensibilität und die anthroposophische Erfahrung ihn einerseits dazu befähigten, den Nationalsozialismus ohne Umwege als dämonisch und menschenverachtend zu identifizieren, und ihn andererseits befähigten, in einer Art unzweideutig zu sprechen, die jeder hören kann, der hören will, die aber niemand hören muss, der nicht mag. Albert Steffen ist zweifellos einer der maßgeblichen Früherkenner, wenn wir das so nennen wollen.

Als zweites Beispiel möchte ich Ita Wegman (1876-1943) nennen, die bis 1935 ebenfalls im Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum wirkte und nicht nur als Mitbegründerin der Anthroposophischen Medizin zu den prägenden Persönlichkeiten der Anthroposophie zählt. In dem hier in Rede stehenden Sinne stand sie unmittelbar an Steffens Seite. Aus ganz anderen Hintergründen, Motiven und mit ganz anderen Möglichkeiten handelte sie nicht minder klar und wirksam. Bei ihr ist vor allem bemerkenswert, wie sie in ihrem weltweiten und sozial engagierten Netzwerk der Beziehungen, Freundschafts- und Gesprächsverbindungen schon sehr früh Maßnahmen ergriff, um die anthroposophische Arbeit und Bewegung vor allem außerhalb Deutschlands, ja im außereuropäischen Raum zu verankern, damit sie ihre bevorstehende Unterdrückung in Europa überleben könne und einmal, wenn dieser Alptraum vorüber sein würde, die anthroposophische Arbeit auch in ihren Kernoder Entstehungsländern weiter geführt werden kann. Ihre Erkenntnis und ihr dezidierter Einsatz kommen, wenn ich das richtig sehe, ganz aus einer anthroposophisch geschulten, praktischen und immer die wirksame Handlung im Sinn tragenden Intuition. Diese Intuitionsfähigkeit gibt ihr eine unmittelbare Urteilsfähigkeit für das mitteleuropäische Faschismus-Phänomen, seine Gefahren und seine Gegenbildlichkeit zur Anthroposophie. Sicherlich beschleunigten und bestätigten ihre vielen Gespräche und Korrespondenzen mit ihren Vertrauten und Mitarbeitenden in aller Welt ihre Ahnungen und Einsichten.Wir können uns heute, glaube ich, kaum vorstellen, welche Lähmung es für die Entwicklung der Anthroposophie nach 1945/46 bedeutet hätte, wenn diese Exilbewegung aus Mitteleuropa nach England, Skandinavien, in die USA, nach Südafrika oder Südamerika in den 30er und frühen 40er Jahren nicht in dem Maße stattgefunden hätte, wie es nicht zuletzt durch die klare Urteilsbildung und Ratschläge Ita Wegmans der Fall gewesen ist.

Also das sind sicherlich zwei in ihrer Eindeutigkeit, Wirksamkeit und Unterschiedlichkeit besonders markante Beispiele für ein frühes Durchschauen des Nationalsozialismus und eines vorsichtigen und wirkungsvollen Umgangs mit dieser Erkenntnis.

Oltmann: Es waren einzelne Menschen, die unmittelbar und sofort erkannt haben,worum es sich hier handelte. Diese Kraft, sich weder täuschen noch faszinieren zu lassen, sondern nüchtern die Verhältnisse durchschauen zu können, ist das Einzige, was im kleinen und großen Kampf, im Geisteskampf, hilft. In den Mysteriendramen kommt das deutlich heraus. Unter diesen Einzelnen werden hier sicher noch solche genannt werden, die Anthroposophen waren. Die Anthroposophie trägt nämlich in ganz besonderer und hervorragender Weise die Möglichkeit in sich, das Ich zu stärken, von dem die Sicherheit in Beurteilungen ausgeht.

Wieder ist das Gegenteil von dieser Dynamik zu erkennen, wie negativ aufeinander bezogen: Neben der Macht zu täuschen, hat das “Tier aus dem Abgrund” noch eine zweite Absicht, deren Gelingen auch an den Nachwirkungen bei Kriegsende deutlich wird: Es ist die Macht, von sich selbst besessen zu machen, sich als Ersatz-Ich zu etablieren und zu sagen: Du bist nichts. Dann in völlige geistige Unfreiheit zu führen, welche die Aussage möglich macht: Ich habe ja nur Befehle ausgeführt. Eine vorübergehende Totalverabschiedung vom eigenen Ich ohne jede Eigenverantwortung.

Mit der Nachwirkung meine ich, wie furchtbar schamvoll nach Kriegsende dann bei vielen das allmähliche oder plötzliche Erwachen gewirkt hat, als die Kulissen der Fremdausstattung mit einer fremden Macht gefallen waren. Auch Scham ist eine Ich-Resonanz. Ich möchte es noch einmal wiederholen, dass die Anthroposophie genau das Gegenteil von einer solchen Katastrophe intentionalisiert.

Schmelzer: Zu diesem Aspekt ist die andere Seite dazu zu stellen, dass eben gegen dieses Tier, von dem Sie eben gesprochen haben, eine bestimmte Art von Urteilsfähigkeit offensichtlich immun macht.

Und das ist bei Albert Steffen besonders eindringlich, dieses Verarbeiten der Zeitereignisse in einer meditativen Weise.

Man kann dies an den Tagebüchern sehen, wo er fast täglich notiert, was politisch geschehen ist, aber dieses Geschehen in eine größere Dimension hinein stellt.

Diese wache Zeitgenossenschaft ist schon sehr beeindruckend.

Ähnlich bei Rudolf Steiner, der ja 1923 nach dem Hitler-Putsch gesagt hat: “Wenn diese Gesellschaft sich durchsetzt, bringt dies für Mitteleuropa eine große Verheerung.” Und der seine Wohnung in Berlin augenblicklich gekündigt hat. Da liegt das Element einer ganz klaren Urteilsfähigkeit im Bewerten der Zeitereignisse vor. Nach der Machtergreifung kam dann bald das Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft, dann die Verfolgung der verschiedenen anthroposophischen Initiativen, auch die Waldorfschulen wurden nach und nach geschlossen.

Damit sind wir beim Thema der verschiedenen Wirkensfelder innerhalb der Anthroposophie, das wir nur ganz kurz streifen können. Herr Werner, sind in diesem Zusammenhang besonders markante Beispiele zu nennen von vielleicht taktischer Kooperation, von Kompromissen, bei denen man eine Linie überschritten oder vielleicht auch sehr geschickt eingehalten hat?

Werner: Ich möchte dem hinzufügen, dass Albert Steffen in seinem Tagebuch der ersten Monate 1933 viel verzeichnete, aus dem deutlich hervorgeht, wie klar er gesehen hat.

Er konnte nur, weil er die deutsche Mitgliederschaft schützen wollte, nicht in dem Sinne klar öffentlich auftreten. Alles ist bei ihm dann dichterisch verwandelt worden. Aber in seinem Tagebuch steht das sozusagen brutal deutlich drinnen. Auch die Erwähnung, dass da etwas Dämonisches vorliegt, das überwunden werden muss, bevor der ätherische Christus erkannt wird. So habe ich ihn verstanden. In aller Kürze kann vielleicht auf drei Varianten hingewiesen werden: eine Variante ist der Rat Ita Wegmans, dass die heilpädagogischen Einrichtungen in Deutschland sich nicht organisieren sollten, sondern jede für sich arbeiten, abwarten, oder ins Exil gehen. Das war Ita Wegmans Sicht.

Das andere Extrem vertrat Erhard Bartsch, der sich Büchenbacher gegenüber äußerte: “Wenn man wirklich michaelischen Geist hat, tritt man an die Seite von Adolf Hitler.” Das ist allerdings eine Bemerkung, die lediglich von Hans Büchenbacher wiedergegeben wird und offenbar aus der gleichen Stimmung wie bei Meebold rührte.

Er meinte auch, dass die biologisch-dynamischen Landwirte sich organisieren müssten. Durch einen Reichsverband seien sie stark und könnten gegenüber den Herrschaftsmächtigen kraftvoll auftreten. Das war eines seiner Motive, welches er auch umsetzte. Er lud alle ein auf seinen Hof Marienhöhe bei Berlin und sorgte für einen eifrigen Besucherstrom von Partei und Regierungsvertretern.

Als die Düngemittelindustrie gegen die biologisch-dynamische Landwirtschaft vorgehen wollte, bemühte Bartsch das Argument der politisch gewollten Autarkie, da die biologisch-dynamische Landwirtschaft auf die Einfuhr von Düngemitteln verzichten könne. Das führte zu der Illusion, dass die biologischdynamische Landwirtschaft zu einer staatlich geförderten, allgemein applizierten Landwirtschaft werden könne und so ihren Durchbruch schaffen werde. Er übersah dabei, dass die biologisch-dynamische Landwirtschaft keine nationale Angelegenheit werden dürfe, wenn sie in der richtigen Weise in der Welt leben sollte.

Das war die Versuchung, in die Erhard Bartsch mit seinem Missionseifer geriet.

Ich kann das auch deswegen ganz frei sagen, weil er nach dem Krieg Fritz Götte, einem der damals leitenden Vertreter der Weleda Betriebe, ganz eindeutig erklärte, dass er sich geirrt habe. Das ist bei ihm gleichfalls eingetreten. Zwischen diesen beiden Extremen liegt das Verhalten der Waldorfschulen, das komplex ist. Da ist einerseits der Wille zu beobachten, sich ebenfalls zu organisieren, und andererseits setzt man auf die Autonomie der einzelnen Einrichtungen. Es ist ein komplexer Vorgang, den man nicht vereinfachen sollte. Aber ich möchte betonen, dass man gegenüber keinem der zahlreichen Menschen, denen ich in meiner Forschung innerhalb der Waldorfschulbewegung begegnet bin, keinem einzigen nachsagen könnte, er wäre tatsächlich nazifreundlich gewesen. Immer ging es um Versuche zu überleben. Häufig gab es den weisheitsvollen Entschluss, lieber selbst zu schließen bevor man geschlossen wurde. Einige Schulen wie Hamburg-Altona oder Berlin haben sich so entschieden. Andere machten so lange weiter, wie es ging. Das waren z.B. Stuttgart und Hamburg-Wandsbek. Aber es gab auch den Einsatz von Elisabeth Klein, die ich selbst noch als Lehrerin nach dem Krieg erlebt habe. Sie wird immer verdächtigt, nazifreundlich gewesen zu sein. Sie ist aber einfach zu allen Leuten hingegangen mit der Losung: wir müssen miteinander sprechen, dann gibt es eine Lösung.

Sie hatte die Gabe, andere, also auch Regierungsbeamte, Nazis und so weiter – niemals Hess selbst, sondern Alfred Leitgen einen seiner Privatsekretäre –, so zu begeistern von der anthroposophischen Pädagogik, dass die sich dafür einsetzten. Und vieles war dann noch möglich. Keinesfalls hat sie sich um die Mitgliedschaft in einer NS-Organisation beworben.

Aber so in der Art ging das vor sich, weil selbst die Naziverwaltung kein einheitlicher Block war. Das war eine Polykratie, wo man auf einer Seite weiterkommen konnte und auf der anderen sofort blockiert war. Und noch eine andere Sache möchte ich sagen, dass das Weiterkommen der anthroposophisch orientierten Organisationen in der NS-Zeit nur dadurch möglich war, dass sie als Organisationen nicht zur anthroposophischen Gesellschaft gehörten. Dadurch konnte rechtlich nichts gegen sie gemacht werden. Die scheinbare Wahrung des Rechts gehörte zu den Täuschungsmethoden der Nazis.

Aber das sind Einzelschicksale von Institutionen und von Menschen, die ich in manchen Fällen außerordentlich bewundere in jeder ihrer Phasen.

Schmelzer: Es ist eben angesprochen worden das Thema des Widerstandes, der sich ja besonders im Krieg formiert hat. Frau Oltmann, was ist die moralische Qualität des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus gewesen? Und: Gab es Widerstand auch innerhalb der anthroposophischen Bewegung?

Oltmann: Bevor wir dazu kommen, möchte ich gern noch ein Motiv nennen, das in dieses Gespräch wohl auch gehört, nämlich ein Beispiel erzählen, wie umgekehrt Anthroposophen als mächtigste Feinde der Nazis erkannt wurden.

Als die Christengemeinschaft am 9. Juni 1941 verboten wurde, gab es einige Vorgespräche. Aus einem solchen Gespräch zwischen dem Marineoffizier Hans Erdmenger mit Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin, ist folgendes Zitat erhalten vom Ende Mai. Heydrich sagte zu Erdmenger: “Wir werden das Christentum aus der Welt schaffen. Nach dem Kriege wird der Führer selbst die religiöse Frage neu regeln. Die christlichen Kirchen noch länger zu verfolgen, ist unnötig, denn sie werden allein für ihren Untergang sorgen. Die Christengemeinschaft jedoch könnte in der Zukunft zu großer Bedeutung gelangen und dem Christentum eine neue Stütze geben.Wir würden uns selbst die größten Schwierigkeiten bereiten, wenn wir sie nicht jetzt mit energischem Griff erledigten.”[11] Das andere Beispiel dafür, dass ein Erkennen stattgefunden hat, kommt aus einer anderen Richtung. Es kann übrigens auffallen, wie viele Menschen unter denen, die aktiven Widerstand leisteten, bekennende Christen waren: die Geschwister Scholl und ihr Umkreis, Claus v. Stauffenberg, Alfred Delp, Dietrich Bonhoeffer, Helmut James v. Moltke u.a.

Im Schicksal Moltkes gibt es einen hoch besonderen Augenblick, den er in seinem letzten Brief vom 11. Januar 1945 an seine Frau Freya schilderte. Da standen sich Freisler und Moltke gegenüber und Moltke bemerkte mit einer scharfen Hellsichtigkeit, dass sich hier zwei Menschen gleichzeitig durch und durch erkannten in dem, was sie im Innersten waren. “Ich weiß nicht, ob die Umsitzenden das alles mitbekommen haben, denn es war wie eine Art Dialog – ein geistiger, zwischen Freisler und mir, denn Worte konnte ich nicht viele machen – bei dem wir uns durch und durch erkannten. Von der ganzen Bande hat nur Freisler mich erkannt, und von der ganzen Bande ist auch er der einzige, der weiß, weswegen er mich umbringen muss ... Wir haben sozusagen im luftleeren Raum miteinander gesprochen.” Es klingt so, als habe hier der eine an dem anderen die gesamte jeweilige Geistigkeit wahrgenommen, dass sich “Mächte” gegenüber standen. Das Ganze mit vollkommener Furchtlosigkeit! Das war der Kampf, um den es ging.

Schmelzer: Wir kommen zu unserer letzten Runde. Ich möchte jetzt alle bitten, zu einer Frage zu sprechen, die uns sicher weiter beschäftigen muss: Welche Erkenntnisse lassen sich aus der besprochenen Thematik für die Weiterentwicklung der anthroposophischen Bewegung gewinnen? Welche Urteilsformen sind zu entwickeln?

v. Plato: Vielen Dank, dass Sie gerade diese in die Zukunft weisende Abschlussfrage stellen. Ich möchte gerne an das von Mechthild Oltmann geschilderte Ereignis, das wohl zu den zentralen historischen Ereignissen des 20.Jahrhunderts zählt, anschließen. An dieses Ereignis, als sich Helmuth James von Moltke (1907-1945) und Roland Freisler (1893-1945) im Januar 1945 im Volksgerichtshof in Berlin gegenüber standen und sich wechselseitig erkannten.

In dieser Szene, die Frau Oltmann geschildert hat, wie auch in dem Prozess gegen Alfred Delp (1907-1945), geht es für Freisler um die Auseinandersetzung des Nationalsozialismus mit dem Christentum schlechthin. Freisler hatte erkannt, dass Moltke nicht als Beteiligter von Attentatsplänen gegen Hitler, nicht als Großgrundbesitzer, Adeliger oder Protestant, sondern als Christ vor ihm stand. In diesem Zusammenhang sagte Roland Freisler zu Helmuth James von Moltke: “Nur in einem sind das Christentum und wir gleich: Wir fordern den ganzen Menschen!” So verstand Freisler das Christentum, nicht aber Moltke, obwohl er als ganzer Mensch Christ war.[12]

Noch bevor ich die Moltke-Freisler-Auseinandersetzung kennen lernte, habe ich dasselbe Motiv in einem Interview zur Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus erlebt. Es war in einem Gespräch mit dem Erbprinzen Georg Moritz von Sachsen-Altenburg (1900-1991), der einige Jahre in der NS-Zeit mit Siegfried Pickert (1898-2002) das Schloss Hamborn bei Paderborn als anthroposophisch-heilpädagogische Einrichtung leitete. Und ich sehe den Erbprinzen heute noch vor mir – es war nicht lange vor seinem Tod, er war schon bettlägerig und physisch sehr schwach, geistig aber hellwach und klar –, wie er mir die Geschichte erzählte, als er von den Gestapo-Inquisitoren vernommen wurde und schließlich mit Widerstreben hören musste, dass Nationalsozialismus und Anthroposophie eines gemeinsam hätten, dass sie nämlich den ganzen Menschen forderten.[13]

Nicht zuletzt aus der Auseinandersetzung mit der Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus ist mir deutlich geworden, dass in dem Moment, in dem Anthroposophie in einem Sinne verstanden und gelebt wird, “die den ganzen Menschen fordert”, sie dem Nationalsozialismus, ja jeder Form des Totalitarismus verwandt wird und sich damit in ihr Gegenbild verkehrt. Aber heißt das, man sollte sie nur halbherzig aufnehmen, immer in sicherem Abstand bleiben, sich nicht existentiell verbinden? Hier komme ich wieder zu meinem ersten Votum zurück, zu der anthropologischen Frage. Die ganze Herausforderung der Bewusstseinsseele im Gegensatz zur Empfindungs- und Verstandesseele liegt vielleicht in der Gratwanderung zwischen wirklicher Verbindung und wirklicher Distanz, ja mehr noch: in ihrer Durchdringung. Ist das vorstellbar: Sich wirklich mit etwas oder jemandem zu verbinden, sich ganz einzulassen und doch frei zu bleiben, ja gerade dadurch frei zu werden? Wo innere Distanz und existentielle Verbindung keine Gegensätze mehr sind, aber einander ermöglichen, beginnt eine Seelenhaltung, aus der die anthroposophische Bewegung sich kräftig in die Zukunft entwickeln kann und kein Totalitarismus Platz hat.

Oltmann: Ich habe mein Schlusswort schon gesprochen.

Rißmann: Ich denke, das Beispiel Anthroposophie – und es gibt viele andere Beispiele in den 20er Jahren – zeigt, dass es sehr gefährlich sein kann, sich in der Illusion zu wiegen, dass man unpolitisch sei, dass man sich sozusagen in die Idylle des nur kulturellen, des nur esoterischen, des nur religiösen Raums zurückziehen und alles andere ausblenden könne.

Das 20. Jahrhundert – das kann man als akademischer Geschichtsforscher sagen und wohl auch, habe ich den Eindruck, als Anthroposoph – ist ein Jahrhundert, das einen zur Aussage auch zwingt. Und die Verweigerung dieses Bekenntnisses, der Rückzug in die bequeme Idylle einer sehr bequemen, beschaulichen, vergangenheitsorientierten Betrachtung der Kultur kann dann dazu führen, dass man vereinnahmt wird. Also: Wachsamkeit gegenüber der Sphäre des Politischen!

Werner: Auf der Hinfahrt hatte ich auf meinen Zug zu warten. Auf der Raucherinsel stand mit mir ein Rechtsanwalt, 62 Jahre alt, und erzählte, er fahre nach Eisenach. Dort sei das Treffen einer Burschenschaft, der er seit seinem Studium angehöre.

Es werde da verhandelt, ob ein türkischstämmiger Deutscher aufgenommen werden solle. Und er war empört darüber, dass das überhaupt als Frage aufgekommen war.

Zwei Tage später habe ich gelesen, dass der Aspirant aufgenommen wurde und dass dies als Sensation bezeichnet wurde. Mich hat bewegt, dass das heute nach wie vor eine Frage sein kann, wie mein Verhältnis zu meiner Herkunft – nicht nur Rasse und Volk –, sondern auch bereits Familie, Heimat usw. ist. Es erscheint mir von Bedeutung, dass dieses Deutschsein offenbar nach wie vor nicht unproblematisch ist. Ein gesundes Verhältnis dazu zu gewinnen, scheint nach wie vor ein steiniger Weg zu sein. Es ist gar nicht so selbstverständlich, “heimatlos” zu werden. Und das bringt mich zu dem Gedanken, was zukünftige Gemeinschaftsbildung sein kann. Ist das etwa bereits gelöst? Sind die Gemeinschaften, in denen ich mich befinde auch diejenigen, die ich will? Was bewegt mich, Gruppierungen zu bilden, die meinen individuell berechtigten Freiheitsdrang nicht in falscher Weise begrenzen? Ist das möglich, Gemeinschaften zu haben, in denen kein Widerspruch ist zwischen Angehörigkeit zu der Gemeinschaft und Selbstsein, so wie ich bin, so wie ich sein will und werde? Das ist eine Gestaltungsfrage, die sich auch in der lebendig veranlagten anthroposophischen Gesellschaft immer wieder stellt, der ich ja gerne angehöre.

Schmelzer: Ich möchte mich bei allen Gesprächsteilnehmern sehr herzlich bedanken, bei Ihnen bedanken, dass Sie so intensiv zugehört haben. Ich denke, wir werden manches mitnehmen und vielleicht in eine Sphäre des Schweigens überführen.

Natürlich wird jeder auch mit dieser Frage umgehen: Wie hättest du dich selbst verhalten? Aber vielleicht ist eine andere Frage genauso wichtig: Ist es eigentlich so, dass wir heute individuell, aber auch als anthroposophische Bewegung den Herausforderungen, die die Zeit stellt, wirklich voll und ganz gerecht werden? Da würde ich gerne anknüpfen an das, was Herr Rissmann empfohlen hat, nicht einen Rückzug in eine nur kulturelle Sphäre zu machen, sondern Aufmerksamkeit zu entwickeln für das Politische. In diesem Zusammenhang möchte ich abschließen mit einem Wort von Rudolf Steiner, das sehr wenig bekannt ist und aus der Dreigliederungszeit stammt. Damals war es so, dass ein Rückhalt für die Dreigliederungsbewegung gesucht wurde und es gab im Januar 1919 ein Gespräch zwischen Rudolf Steiner, Emil Molt, Hans Kühn und Roman Boos. Man fragte sich, wer einen solchen Rückhalt bilden könnte. Darauf sagte Emil Molt: “Die Anthroposophische Gesellschaft ist dazu nicht geeignet, sie soll sich ja nicht mit Politik befassen.” Rudolf Steiner: “Wieso, wer sagt das?” Kühn, Molt, Boos, unisono: “Der Statutenentwurf.” Rudolf Steiner: “Dieser ist ja von 1911 und außerdem durch den Krieg längst ausgelöscht. Die Anthroposophische Gesellschaft kann sich ruhig mit Politik befassen, ich rede ja auch immer von Politik.” Völlig überrascht Hans Kühn: “Könnte sich die Gesellschaft als Partei betätigen?” Rudolf Steiner: “Sie ist kein Verein, nur eine Gesellschaft. Der Einzelne hat volle Freiheit. Man braucht für eine Partei nicht diesen Namen ,Anthroposophische Gesellschaft’ zu wählen. Es müssten auch Nicht-Anthroposophen als Angehörige aufgenommen werden.” Diese Worte sind, meine ich, ein erschütternder Appell, sich aus anthroposophischer Perspektive nicht nur mit wissenschaftlichen, künstlerischen und religiösen Fragen auseinanderzusetzen, sondern auch mit politischen.

Und die Bemühung, dazu immer wieder die Kraft aufzubringen, ergibt sich aus meiner Sicht als Konsequenz aus dem, was wir hier besprochen haben.Vielen Dank.


[8] Bodo v. Plato in Die Drei 11/1997: “Der Nationalsozialismus und das Janushaupt der Neuzeit – von der anthropologischen Disposition zur Bewusstseinsseele”

[9] Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland. Band 1. S. 632. Anm. 348

[10] www.Kulturimpuls.org

[11] Uwe Werner, Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, München 1999, S. 308

[12] Helmuth James von Moltke, Im Land der Gottlosen, Tagebuch und Briefe aus der Haft 1944/45, München 2009; Brief vom 10./11.1.1945, S. 339

[13] Schloss Hamborn im Nationalsozialismus. Ein Streiflicht. In: Konturen 2, Heidelberg, Menon, 1991, S. 83-91’

1 opmerking:

Anoniem zei

Elisabeth Klein z.B. wird doch sehr beschönigt dargestellt. Ihre Autobiographie sagt anderes über sie aus. Michael Eggert hat auf seinen Egoisten-Seiten ja ein paar Artikel über sie geschrieben. Regina

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(Hilversum, 1960) – – Vanaf 2016 hoofdredacteur van ‘Motief, antroposofie in Nederland’, uitgave van de Antroposofische Vereniging in Nederland (redacteur 1999-2005 en 2014-2015) – – Vanaf 2016 redacteur van Antroposofie Magazine – – Vanaf 2007 redacteur van de Stichting Rudolf Steiner Vertalingen, die de Werken en voordrachten van Rudolf Steiner in het Nederlands uitgeeft – – 2012-2014 bestuurslid van de Antroposofische Vereniging in Nederland – – 2009-2013 redacteur van ‘De Digitale Verbreding’, het door de Nederlandse Vereniging van Antroposofische Zorgaanbieders (NVAZ) uitgegeven online tijdschrift – – 2010-2012 lid hoofdredactie van ‘Stroom’, het kwartaaltijdschrift van Antroposana, de landelijke patiëntenvereniging voor antroposofische gezondheidszorg – – 1995-2006 redacteur van het ‘Tijdschrift voor Antroposofische Geneeskunst’ – – 1989-2001 redacteur van ‘de Sampo’, het tijdschrift voor heilpedagogie en sociaaltherapie, uitgegeven door het Heilpedagogisch Verbond

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